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Nach Konstantin

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Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges begann im europäischen Katholizismus eine Auseinandersetzung über die Wege der Kirche in der Welt. Führende Kreise im Südwesten, in Spanien, Südamerika, Süditalien, fordern eine möglichst totale Restauration. Ihr Leitbild ist der „katholische Staat“, ist „das heilige Reich“ des Mittelalters. Demgegenüber vertritt der „offene Katholizismus“ französischer Theologen und von Laien im deutschen Sprachraum und darüber hinaus die Auffassung: das konstantinische Zeitalter geht zu Ende. Die Kirche darf sich nicht mehr auf das Schwert der weltlichen Macht stützen. Sie muß auf neuen Wegen sich einerseits in der neuen Welt einwurzeln, anderseits die Auseinandersetzung mit außer- und unchristlichen Zeitelementen wagen. Im Streit um „Konstantin“, der übrigens schon ein mehrhundertjähriges Vorspiel im Mittelalter selbst hat, haben sich die beiden Hauptfronten im zeitgenössischen Katholizismus gebildet.

Da erregt es nun weit über Deutschland hinaus Aufsehen, daß der Erzbischof Dr. Lorenz Jäger von Paderborn sein Neujahrsschreiben an seine Diözesanen unter eben dieses Leitbild stellte: das Konstantinische Zeitalter geht zu Ende. Das führende Organ des schweizerischen Katholizismus, die von Jesuiten herausgegebene „O rientierung“ veröffentlicht diese Botschaft und bemerkt zu den Erklärungen des Erzbischof s von Paderborn: „Sie enthüllen eine Weltsiruation der Kirche von heute, die zu überdenken nicht dringlich genug auch anderen empfohlen werden kann“. Wir müssen dazu festhalten: die Diözese Paderborn umfaßt neben westdeutschen Gebieten auch breite Räume der „DDR“. Dieses Grußwort des westdeutschen Erzbischofs gilt also gerade auch seinen vielen Diözesanen in der „Zone“. Die Leitsätze dieser Botschaft sind also auch in diesem Sinne von eminenter Bedeutung. Vernehmen wir nun ihre wichtigsten Feststellungen:

„Es bereitet sich eine neue Weltkultur, eine ' neue Weltanschauung vor . . . Nicht nur die Menschheit, auch die Kirche steht an einem Wendepunkt ihrer Geschichte. Das sogenannte Konstantinische Zeitalter geht zu Ende. Kaiser Konstantin der Große hatte die Kirche unter den Schutz des Staates genommen und eine eigene Verbindung von Kirche und Staat eingeleitet. Der Höhepunkt der von ihm in augurierten Epoche war das Mittelalter, in welchem die gesamte Kultur der europäischen Völker irgendwie vom Geiste des Glaubens geführt und durchdrungen war... Vielen kirchlichen Kreisen des 19. Jahrhunderts erschien die Restaurierung des Mittelalters als wünschenswert. .. Damit hing es zusammen, daf! man Aach Möglichkeit versuchte, die Gläubigen in geschlossenen Räumen von allem abzuschirmen, was eine Auseinandersetzung mit den unchristlichen Zeitströmungen not' wendig gemacht hätte . . . Dieses Abgeschirmtsein des christlichen Volkes von der zunehmend sich säkularisierenden Weltkultur, dieses Betreut- und Geführtsein vom Klerus hat das Bewußtsein der eigenen Verantwortlichkeit des Laien für diese Welt und für das persönliche Zeugnis des Glaubens in seinen Lebensbereichen nicht voll zur Reife kommen lassen. Wir haben auf der Dechantenkonferenz vom 19. bis 22. Mai des zu Ende gegangenen Jahres überlegt, wie die falschen Sicherungen abzubauen sind... Liebe Mitbrüder! Aus der für das Konstantinische Zeitalter charakteristischen Gemeinsamkeit von Kirche und Staat ist ein Gegenüber geworden, das in einigen Ländern freundschaftlicher, in vielen Ländern neutraler Art, leider auch in sehr vielen bereits von erklärter grundsätzlicher Feindseligkeit ist. Viele Staaten versuchen, alle Erinnerungen an die christliche Kultur auszulöschen oder durch andersartige Ideologien zu ersetzen. Der Eintritt der farbigen Völker in die Weltgeschichte und das Wiederaufleben der großen nichtchristlichen Weltreligionen des Hinduismus, des Buddhismus und des Islam haben eine völlig veränderte Wettsituation hervorgerufen, welche die Kirche vor ganz neue und überaus schwierige Aufgaben stellt... Liebe Mitbrüder! Zusehends macht sich das technische Zeitalter mit der ihm eigenen Weltanschauung breit. Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, daß das Christentum nicht mehr die gemeinsame Grundtage menschlichen Denkens, Wertens und Handelns ist, wie es das bislang gewesen ist seit den Zeiten eines Konstantins des Großen. Jesus Christus hat zwar seiner Kirche versprochen, daß er bei ihr bleibt bis zum Jüngr sten Tag (Mt. 28, 20) und daß die Pforte der Hölle sie nicht überwältigen werden (Mt. 16, 18). Diese Verheißung besagt jedoch nicht, daß die Kirche unberührt bleiben werde von dem Wandel der Zeiten und den Schicksalen der Völker und Kulturen, in deren Bereich sie ihre Sendung auszuüben hat. Unveränderlich bleibt das Glaubensgut, unveränderlich bleibt die von Christus begründete Verfassung der Kirche. Aber ein Blick auf die Geschichte der Kirche lehrt uns, wie sehr die Wandlungen in der Völkerwelt die Eigenart der kirchlichen Wirksamkeit beeinflussen und eine stets neue Anpassung an die veränderten Zeitverhältnisse erfordern ... Es ist unsere Aufgabe, die Gläubigen unserer Gemeinden zu rüsten für die neue Zeit. Die Kirche ist nicht an ein bestimmtes Gesellschaftssystem, nicht an eine bestimmte Kultur gebunden. Sie hat jeder Zeit das Evangelium zu künden und mitzuhelfen, daß der Mensch sich selbst und die Gesellschaft in Ordnung bringt. Angesichts der gewaltigen Revolution aller menschlichen Bereiche während der letzten 50 Jahre ist weder ein naiver Optimismus noch ein lähmender Pessimismus angebracht, sondern nur die unzerstörbare christliche Hoffnung. Sie lebt aus jenem Glauben und jener Liebe, die niemals untätig sind.“

Diese Botschaft des Erzbischofs von Paderborn an den Klerus seiner Diözese in Ost- und Westdeutschland zeigt mutig und offen die riesigen Aufgaben an, die der Kirche und den Christen in der Neuzeit, die eben begonnen hat, gestellt sind.

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