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„Einen Präsidenten zu beseitigen, braucht nur vier bis acht Sekunden in Anspruch zu nehmen, aber alle Zweifel über seinen Tod in den Köpfen verstörter Menschen zu beseitigen, kann für immer dauern.“ So kommentierte „Newsweek“ den Bericht des Warren-Ausschusses über die Ermordung Präsident Kennedys.

Die Aufnahme des Berichtes hat diesen Kommentar bereits bestätigt. Allerdings nicht in den Vereinigten Staaten, wo der Bericht nur bei wenigen Einzelgängern auf Zweifel stößt. Unter den Europäern jedoch ist die Skepsis größer. In Europa wurde ein politischer Mord fast immer von Verschwörern ausgeführt. In den Vereinigten Staaten war Lincoln der einzige von' Kennedys ermordeten Vorgängern, der einer Verschwörung zum Opfer fiel. Die politischen Leidenschaften in den Staaten steigern sich im allgemeinen nicht bis zur physischen Vernichtung des Gegners.

Die Zusammensetzung des Warren-Ausschusses sollte die unentwegten Anhänger der Verschwörungstheorie mit wenigstens gelinden Zweifeln an ihren Hypothesen erfüllen. Der Vorsitzende des Ausschusses, Earl Warren,der Präsident des Obersten Gerichtshofes, ist der extremen Rechten besonders verhaßt. Sie fordert seit Jahr und Tag, ihn in den Anklagezustand zu versetzen, weil das Oberste Gericht seine Kompetenzen sehr großzügig auslegt, um einer liberalen Gesetzgebung zum Durchbruch zu verhelfen. Anderseits waren die gemäßigten Konservativen mit drei ihrer fähigsten und einflußreichsten Mitglieder vertreten, dem südstaatlichen Senator Richard Russell, dem republikanischen Kongreßabgeordneten Gerald Ford, den viele vernünftige Republikaner gerne als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft gesehen hätten, sowie John McCloy, dem früheren Hochkommissar für Deutschland. Dem Ausschuß gehörten außerdem ein fortschrittlicher Republikaner, Senator John Sherman Cooper, sowie ein einflußreicher Demokrat, der Kongreßabgeordnete Hale Boggs, an.

Als Fachmann für Verschwörungen und subversive Tätigkeit ergänzte Allen Dulles,der frühere Leiter der CIA, das Gremium. Man muß von dem Ausschuß im Imperfektum sprechen, weil er sich mit der Erstattung des Berichtes aullöste.

In sorgfältiger mühevoller Kleinarbeit hat der Ausschuß alle Einzelheiten des Attentats überprüft Die scheußliche Tat selbst wurde rekonstruiert, wobei zwei Geheimdienstbeamte, mit ungefähr den Körpermaßen des toten Präsidenten und des verwundeten Gouverneurs, deren Plätze einnahmen. Im Verlauf der Arbeit des Ausschusses hielt der FBI 25.000 Verhöre ab, die in 2300 Berichten ihren Niederschlag fanden. Der Geheimdienst hielt 1550 Verhöre ab und unterbreitete 800 Berichte. Der Ausschuß selbst vernahm 552 Zeugen, deren Aussagen demnächst veröffentlicht werden. Kein Wunder, daß für das Ergebnis soviel Zeit benötigt wurde. Es liegt auf der Hand, daß dieser Zeitraum den Bemühungen, die

Wahrheit überzeugend darzustellen, nicht dienlich war.

Wenn man aber die 300.000 Worte des Berichtes, den der Ausschuß erstattete, ohne Vorurteil liest, kommt man zu dem Schluß, daß der Tod in Texas nicht im Licht eines soziologischen Konfliktes, sondern in dem einer mythologischen Tragödie gesehen werden muß. Wieder wurde Balder von Loki erschlagen. Gerade wir, die wir in der jüngsten Zeit immer wieder erlebten, daß in Menschen, denen man es nicht ansah, ein Mörder steckte, sollten das verstehen.

Rätselhaftes Motiv

Tatsächlich sah man es Lee Harvey Oswald, dem Liebe und die Fähigkeit, zu lieben, gleichermaßen versagt blieben, nicht an. Selbst die Psychiater, die ihn in seiner Kindheit untersuchten, hatten nicht geahnt, daß sie es mit einem potentiellen Mörder zu tun hatten. Sie bemerkten in der Persönlichkeit des Dreizehnjährigen „schizophrene“ Züge. Sie erkannten seine „lebhafte Phantasie“, die „um Vorstellungen von Allmacht und Gewalt kreiste, durch die er sich für seine Mängel und Enttäuschungen zu entschädigen versuchte“.

Wo selbst ein Psychiater keine Diagnose stellen kann, kann auch der Ausschuß nur rätseln, ob das Motiv für die Untat in diesen Phantasien enthalten ist. Sie ist um so schwerer verständlich, da der Ausschuß bei Oswald keinen besonderen Haß gegen den Präsidenten finden konnte, sondern eher eine widerwillige Anerkennung seiner Bemühungen um die Gleichberechtigung der Farbigen. Der Vermutung, der Anschlag habe überhaupt Gouverneur Connallygegolten, wird der Boden entzogen. Oswald hatte gewußt, daß Connally über seinen Antrag auf Korrektur der unehrenhaften Entlassung aus dem Marinekorps nicht mehr entscheiden konnte, weil er von seinem Amt als Marineminister zurückgetreten war.

Der Ausschuß kommt zu dem Schluß, daß keines von Oswalds eventuellen Motiven seine Tat „zufriedenstellend erklärt, wenn man sie mit den Normen vernünftiger Menschen mißt“. Jedoch, „ein Motiv, das anderen Leuten unbegreiflich scheint, kann zur Bewegkraft eines Menschen werden, dessen Weltanschauung von Einflüssen verzerrt wurde, deren sich seine Bekannten möglicherweise nur sehr undeutlich bewußt waren“. Der Täter wird folgendermaßen charakterisiert: der Welt, in der er lebte, völlig entfremdet. Sein Leben gezeichnet von Isolierung, Enttäuschung und Fehlschlägen… so gut wie keine engen Beziehungen zu anderen Menschen … niemals zufrieden …. in den Vereinigten Staaten stieß ihn das kapitalistische System ab, von dem er meinte, es beute ihn und seinesgleichen aus… in der Sowjetunion ärgerte ei’ sich über die Mitglieder der kommunistischen Partei…, die, seiner Meinung nach, den Kommunismus verrieten… Er warf seiner Frau vor, andere Männer ihm vorzuziehen und verlangte, sie solle nach Rußland zurückkehren, aber ohne Scheidung, gleichzeitig erklärte er, … er könne ohne sie nicht existieren.“

Kein Zweifel über die Täterschaft

Der Ausschuß ist sich aber nur über das Motiv nicht klar. Es gibt keinen Zweifel für ihn daran, daß Oswald der alleinige Täter war und daß er aus eigener Initiative Handelte. Er war der Besitzer des Mordgewehres, eines Mannlicher- Carcanos, mit dem er sich einmal sogar stolz photographieren ließ. Die Mordprojektile kamen aus diesem Gewehr. Oswald war imstande, in einem Zeitraum von mindestens 4,8 bis höchstens sieben Sekunden die Schüsse abzufeuern. Alle drei Schüsse, von denen einer sein Ziel verfehlte, wurden aus der gleichen Richtung abgegeben. Die Windschutzscheibe des Präsidentenautos wurde nicht von vorne getroffen, sondern erlitt durch ein von hinten kommendes Kugelfragment eine Absplitterung. Damit erledigen sich die Behauptungen, daß das Auto von mehreren Leuten unter Beschuß genommen wurde.

Bezeichnenderweise hatte Oswald das Gewehr unter dem Namen J. Hidell bestellt. Es machte ihm großes Vergnügen, die Menschen mit Decknamen zu foppen. Er stellte sich selbst Zeugnisse aus, die er mit verschiedenen Namen unterschrieb, wie zum Beispiel ein Impfzeugnis, signiert von einem „Dr. Hidel“. Als er in New Orleans eine Ortsgruppe des Komitees „Hände weg von Kuba“ gründete, deren einziges Mitglied er war, registrierte er J. A. Hidel als Vorsitzenden. Seine Frau meinte, ihm gefalle Hidel besonders, weil es sich mit Fidel reimte.

Ein 45jähriger Bauarbeiter, Howard Brennan, identifizierte Oswald vor dem Ausschuß als den Täter. Er hatte die Vorbeifahrt des Präsidenten auf einer Mauer erwartet, die gegenüber, aber unterhalb dę? Fensters,. im, .6. Sfocjc der Sęhųlbųphhandlupg lag,. aus dem dię. Schüsse abgegeben.. wurden. Vor Ankunft der Autokolonne hatte er Oswald mehrmals am Fenster gesehen. Nach Abgabe des ersten Schusses schaute er zum Fenster hin und sah Oswald schießen.

Es mag der Einwand erhoben werden: Auch wenn es feststünde, daß Oswald der Täter war, sei es damit nicht entschieden, ob er von einem Anstifter gedungen wurde. Ein Negativum ist natürlich viel schwerer zu beweisen, als ein Po- sitivum. Jedoch haben die Bemühungen des Ausschusses, jede Stunde aufzuhellen, die Oswald seit seiner Rückkehr aus der Sowjetunion im Sommer 1962 bis zudem Attentat verbrachte, keinen Anhaltspunkt für eine Verbindung mit anderen ergeben.

Der Mörder des Mörders

Manche Leute bilden sich ein, daß Jack Ruby Oswald umbrachte, um ihn am Reden zu hindern. Der Ausschuß verneint nicht nur jede Verbindung zwischen den beiden, sondern läßt es auch als ziemlich sicher erscheinen, daß dieses andere Stiefkind des Schicksals eine reine Affekthandlung beging. Rubys ganzes Leben trug den Stempel der Gewalttätigkeit.

Mit der ihm eigenen Mischung von Sentimentalität und Geschäftemacherei — er war geschäftlich zwar rührig, aber nicht erfolgreich — reagierte er auf das Attentat. Trauer infolge des Verlustes für die Nation, Mitleid mit der Familie Kennedys, Verärgerung über den finanziellen Verlust infolge der Schließung seiner Lokale waren die Ingredienzen seines Hasses gegen den Täter.

Rubys fixe Idee

Je mehr er in den ungewohnten Mußestunden der Trauertage über die Untat brütete, desto größer wurde seine Wut. Schließlich wurde der Gedanke, Oswald umzulegen, zu einer fixen Idee. Da er ein sehr primitiver Mann ist, dessen Bildung nicht über die Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben hinausgeht, ist es möglich, daß er. auch von der Hoffnung erfüllt war, die Nation werde ihn auf ein Piedestal stellen.

Eine umstrittenere Frage, als die der Urheberschaft des Attentates, ist, ob es hätte verhindert werden können. Der Ausschuß ist mit den Sicherheitsvorkehrungen, sowohl seitens des FBI als auch seitens des Geheimdienstes, unzufrieden, am meisten aber mit dem ersteren. Der mit dem Schutz des Präsidenten beauftragte Geheimdienst hatte die Fühlung mit anderen Regierungsstellen vernachlässigt, von denen er Auskunft über verdächtige Individuen hätte erhalten sollen. Außerdem hatten sich einige Beamte in der Nacht vor dem Attentatstag einer Disziplinverletzung schuldig gemacht. Dem FBI wurde „eine unzulässig engherzige Auffassung der Verantwortung für die vorbeugende Beobachtung“ vorgeworfen. Obwohl FBI-Agenten Lee Oswald an seinen verschiedenen Wohnorten einvernommen oder Erkundigungen über ihn eingezogen hatten, waren dem Geheimdienst keine Informationen gegeben worden. Der Ausschuß meinte, der FBI hätte „Oswald als eine mögliche Gefährdung der Sicherheit des Präsidenten angeben müssen“.

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