6825473-1974_09_16.jpg
Digital In Arbeit

Kennedy: Legenden und Realitäten

19451960198020002020

„Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden“, pflegt man in solchen Fällen zu sagen — trotzdem ist der Bericht des französischen Journalisten Camille Gilles über ein gescheitertes CIA-Komplott zur Erschießung des US-Präsidenten Kennedy wert, beachtet zu werden. Nicht nur wegen seines Informationsgehaltes, sondern auch, und vielleicht mehr noch, als politisches Symptom. Und als Beispiel für das Phänomen der Legendenbildung im Gefolge undurchsichtiger Ereignisse. (Übrigens gibt es Legenden, die sich für Wahrheiten ausgeben, aber auch Wahrheiten, die als Legenden auftreten!)

19451960198020002020

„Wenn es nicht wahr ist, ist es gut erfunden“, pflegt man in solchen Fällen zu sagen — trotzdem ist der Bericht des französischen Journalisten Camille Gilles über ein gescheitertes CIA-Komplott zur Erschießung des US-Präsidenten Kennedy wert, beachtet zu werden. Nicht nur wegen seines Informationsgehaltes, sondern auch, und vielleicht mehr noch, als politisches Symptom. Und als Beispiel für das Phänomen der Legendenbildung im Gefolge undurchsichtiger Ereignisse. (Übrigens gibt es Legenden, die sich für Wahrheiten ausgeben, aber auch Wahrheiten, die als Legenden auftreten!)

Werbung
Werbung
Werbung

Es gibt historische Ereignisse — und Gestalten —, die die Phantasie der Menschen stärker anregen als die wildesten Abenteuerromane. Der Mord an Kennedy in Dallas war ein solches Ereignis, aber auch der Reichstagsbrand oder, um weiter zurückzugreifen, das Geschehen von Mayerling. Drei Ereignisse, die jedenfalls das eine geineinsam haben, daß in jedem dieser Fälle eine mangelhafte Unterrichtung der Öffentlichkeit die Legendenbiidung angeheizt hat.

Der historisch oder politisch Interessierte, alber auch der Historiker selbst sieht sich dann oft in der Situation des Geschworenen in einem Mordprozeß, in dem die Wahrheitsfindung durch Mängel der polizeilichen Ermittlungsarbeit erster Stunde unmöglich oder gar zur Farce gemacht wird. Paradebeispiel etwa der Fall Vera Brünne.

Hielt im Falle Brühne eine schon sträfliche Dummheit (gestraft wurde dann allerdings nicht die Dummheit, sondern Vera Brühne) gerichtsmedizinische Untersuchungen am toten Dr. Praun so lange für unnötig, bis es zu spät war, unterband der Komment des 19. Jahrhunderts gemeinsam mit dem Bedürfnis des Monarchen, alle Einzelheiten des“ Geschehens aus dem öffentlichen und vielleicht auch eigenen Bewußtsein zu verdrängen und mit einem Tabu zu beilegen, Klarstellungen so lange, bis ein nicht mehr zu beseitigendes Gestrüpp von Gerüchten jede Spur der Wahrheit überwuohert hatte, so war es nach dem Tod Kennedys in Dallas doch etwas anders.

Hier ist es anscheinend nicht so, daß das Wissen um den Sachverhalt verloren wäre — es wird nur alles, was mit dem Präsidentenmord zu tun hat und für die Wahrheitsfindung brauchbar wäre, in einer Weise geheimgehalten, der gegenüber die Geheimhaltung atomarer Geheimnisse fast schon einem öffentlichen Aushang gleichkommt. Das Resultat ist dasselbe: Legenden, Legenden, die sich als Wahrheit tarnen, bis eventuelle Wahrheiten kaum noch von Legenden unterschieden werden können.

Der Journalist CamiMe Gilles, Ex-fallsohirmjäger, Exleutnant, trifft also, so beginnt sein Bericht, eines Tages oder besser Abends in einem Pariser Bistro einen Exkameraden, der beim Geheimdienst tätig war und der ihm von einem Mann namens „Romero“ erzählt, dem die CIA 400.000 Dollar dafür bezahlen wollte, daß er Präsident Kennedy erschoß — im Mai 1961 in großen Geheimgespräch mit Chruschtschow. Es soll so aussehen, als hätte der Schuß de Gaulle gegolten, aber Kennedy getroffen. Daher die Wahl des Killers: ein labiler, vom Indochinakrieg gezeichneter ehemaliger FremdenAegionär, der de Gaulle wegen seines „Verrates an den Algerienfranzosen“ haßt. Dieser Mann ist zwar nicht besonders intelligent, erkennt aber, was geplant ist: einer seiner von der CIA beigestellten Leibwächter wird ihn nach vollbrachter Tat sofort zur Strecke bringen, nur ein totes Werkzeug war ein gutes Werkzeug. „Romero“ macht sich mit der Anzahlung von 200.000 Dollar aus dem Staub, verzichtet auf die zweiten 200.000 Dollar und taucht unter — für viele Jahre.

Das Buch „400.000 Dollar für den Mörder“ („400.000 Dollars pour abattre Kennedy a Paris“) erschien .im renommierten Verlag Julliard, und der Verleger Marcel Jullian — der einen guten Ruf zu verlieren hat i— schrieb selbst das Vorwort. Die deutsche Ubersetzung erschien (zum Verdruß eines anderen Verlages, der zu spät kam) in Wien bei Szolnay. Spanische, portugiesische, englische Ausgaben kommen, ein amerikanischer Verlag sprang wieder ab. Man sagt, daß von amerikanischer Seite versucht wurde, das Erscheinen des Werkes zu verhindern.

Man kann dem ehemaligen französischen Fallschirmjägeroffizier jedenfalls ohne Schwierigkeit folgen, wenn er auf Grund seiner eigenen Kriegserfahrung erklärt, daß der angebliche Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald nicht in der Lage war, mit der sichergestellten Waffe in den wenigen zur Verfügung stehenden Sekunden so oft und so genau zu zielen, wie die War-ren-nKommission annahm — und darüber, daß offenbar auch öfter geschossen worden war, als die Warren-Kommission nachher erlaubte, existiert eine ganze Literatur. Die Indizien dafür, daß die Warren-Komimission Dinge vertuscht hat, gegen die, würden sie bekannt, Watergate eine Lappalie wäre, sind erdrückend.

Sicher hat Gilles (und nicht nur er) recht: Lee Harvey Oswald hat geschossen. Ebenso sicher war mindestens ein zweiter Scharfschütze am Werk. Gilles kombiniert logisch, daß der Polizist Tippit, der von dem lang nach dem Mord aus einem Kino kommenden Oswald erschossen wurde, der Mann gewesen sein könnte, der die Aufgabe hatte, Oswald zu beseitigen. Und daß Oswald ihm zuvorkam. Die endgültige Beseitigung Oswalds mußte improvisiert werden. Soweit Gilles.

War die CIA, waren die hinter dem Kennedy-Mord stehenden Kräfte aber schon Anfang 1961 soweit? Die Vorbereitung des für den Mai geplanten Attentates dauerte ja ihre Zeit. Anderseits hatte die Schweinebucbbaffäre das Verhältnis zwischen dem Präsidenten und der CIA vergiftet.

Die Argumente, mit denen Camiille Gilles seinen Bericht untermauert, sind von zweierlei Art. Da wären die falschen Pässe, mit denen sein Gewährsmann „Romero“ gelebt hat, da wäre eine Einzahlungsbestätigung über die 200.000 Dollar — auf einen der falschen Namen ausgestellt. Da wäre ein Brief von „Romero“. Das alles, auf daß man nicht glaube, Gilles habe sich die ganze Sache aus den Fingern gesogen. Aber da wäre ja noch der ehemalige Geheimdienstmann, der Gilles auf „Romeros“ Fährte setzte und dessen echten Namen man ebenfalls nicht erfährt — könnte die ganze Enthüllungsstory nicht einen französisch-geheiimdienstlichen Nadelstich gegen die ungeliebten „Kollegen“ von der CIA darstellen? Das wäre zumindest eine theoretische Möglichkeit.

Nun kennt Camille Gilles den „Romero“ und erklärt, ihn mittlerweile gut genug zu kennen, um ein Täuschungsmanöver ausschließen zu können. Auch der hochangesehene Verleger Jullian hat „Romero“ kennengelernt — und glaubt an die Echtheit seines Berichts. Sie beide kennen selbstverständlich auch „Bedoyere“, den Vermittler zwischen Gilles und „Romero“. Der Leser aber, der sie nicht kennt, äst in der Lage eines Geschworenen, dem ein Hörensagenbeweis unterbreitet wird. An die Vertrauenswürdigkeit von Gilles und Juillian zu glauben, beinhaltet ja nicht unibedingt auch unbeschränkten Kredit in deren Fähigkeit, ihrerseits „Romero'4 und „Bedoyere“ genügend kritisch auf den Zahn zu fühlen..

Wenn etwas total unglaubwürdig ist, dann die Fabel, der Geheimdienstmann „Bedoyere“ habe dem alten Kumpel Gilles aus lauter Freude über ein unverhofftes Wiedersehen eine Geschichte von solcher Brisanz, vor allem für die CIA-Konkurrenz anvertraut. Wer das glaubt, hält Geheimdienstleute für Waschweiber, und wenn sie alles sind — das nicht. Ob wahr oder nicht: Wenn ein pensionierter Geheimdienstmann diese Story dem Journalisten Gilles anvertraut hat, dann nicht ohne Wissen und Billigung seiner Chefs. Wenn Gilles kein Schwindler ist, und nichts deutet darauf hin, daß er einer ist, dann ist die interessanteste Frage die nach den Motiven des französischen Geheimdienstes.

Bleibt Güles' Argument: „Romeros“ Geschichte passe so genau in das Schema des Mordes von Dallas — die Wahl eines labilen Werkzeuges, das dann, als Toter, für einen pathologischen Einzelgänger gehalten wird —, daß man schwer umhin könne, daran zu glauben. Im Räume steht das Gegenargument: Wenn „Romero“ eine konstruierte Figur Ist, dann eben eine nach Maß. Das heißt nach dem Maße von Dallas.

Gilles zeigt Filmaufnahmen mit einem maskierten „Romero“, der mit einem Gewehr zeigt, wie er Kennedy erschießen sollte. So, wie er es zeigt, am Fenster stehend, im spitzen Winkel schießend, wäre es ein Himmelfahrtskommando gewesen. Aber auch die CIA macht ja bekanntlich Schnitzer (siehe die Schweinebucht). Und es könnte bestens in ihr Konzept gepaßt haben, wenn „Romero“ — freilich nach abgegebenem Todesschuß — von einem Polizeischarfschützen zur Strecke gebracht worden wäre. Das hätte dem Killer des Killers die Arbeit erspart.

Man kann also glauben, daß die CIA Kennedy schon 1961 in Paris ermorden wollte — oder nicht. Man kann Camille Gilles glauben, daß er es glaubt. Er ist auch ein Mann, der einen Ruf zu verlieren hat — Autor zweier publizierter Bücher und eines weiteren über Ben Barka, das kein Verlag annehmen wollte, was bekanntlich auch für einen Autor sprechen kann.

Aber selbst jemand, der zu der Ansicht gelangen sollte, daß „Romero“ die Geschichte, die er Gilles — übrigens ohne Honorar — erzählte, erlogen hat oder von Interessierten eingetrichtert bekam, wird dieses Buch mit Nutzen lesen. Es fördert die zeitgeschichtliche Phantasie. Alles, was dieser Camille Gilles wiedergibt, kann sich so ereignet haben — selbst mit allen seinen Unwahrscheinlichkeiten und Ungereimtheiten, denn, wie gesagt, auch Geheimdienste sind oft ungeschickt. Es ist die furchtbare Erkenntnis dieses Buches, daß die Anklage gegen die CIA, die es beinhaltet, von einer Glaubwürdigkeit ist, die die Frage, ob „Romero“' die Wahrheit sagt, fast zu einer zweitrangigen stempelt.

Reiften etwa die Attentatspläne erst einige Monate später? Welchen Unterschied würde das machen? Gilles legt, und das ist sein Hauptverdienst, Paris hin, „Romero“ her, das Konzept von Dallas dar, das darin bestand, nach menschlichem Ermessen darin bestanden haben dürfte, daß die hinter diesem Mord stehenden Kräfte der Welt einen „Türken“ namens Lee Harvey Oswald servierten, einen Mann, der schoß und dann erschossen wurde, einen Mann, dessen Aufgabe nicht darin bestand, auch wirklich zu treffen. Das Professionelle besorgten die Professionals. Der erschossene Oswald lenkte die Mördersuche von ihnen ab.

Wenn es nicht so war — warum mußten denn so viele Menschen, die, wenn auch nur zufällig, auf die Spuren der Geheimnisse um dieses Attentat gerieten, sterben?

Und wer, wenn nicht die CIA oder eine Organisation ähnlichen Kalibers — oder genauer gesagt Kreise innerhalb dieser Organisation —, hatte solche Möglichkeiten, die Wahrheit zu vertuschen und etwa einen Journalisten, der ihnen in die Quere geriet, im Pressezimmer einer Polizeistation „irrtümlich“ erschießen zu lassen?

Legenden? Legenden wachsen dort, wo die Wahrheit vertuscht wird, und wenn im Zusammenhang mit dem Kennedy-Mord nichts anderes beweisbar ist, dann dies: daß hier mit einem gewaltigen Aufwand die Wahrheit vertuscht wurde. Der Rest sind Indizien — und Legenden.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung