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Soziologenolympia

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Der 7. Weltkongreß der Soziologie wurde wie eine wahre Olympiade im bulgarischen Schwarzmeerbad Varna aufgezogen. 3500 Soziologen aus 80 Ländern hatten sich versammelt. Die bulgarische Volksdemokratie, die in den Geisteswissenschaften bisher keine nennenswerte Rolle gespielt hat, versucht seit ein paar Jahren, in der Soziologie die Führung Osteuropas zu übernehmen. In diesem südöstlichen Balkanland werden junge Soziologen am laufenden Band erzogen und trainiert wie Marathonläufer der Wissenschaft. Die Bulgarische Soziologische Gesellschaft wurde zwar erst am 26. Juni 1959 begründet und eine Dekade später als Bulgarische Soziologische Assoziation umorganisiert. Vorher wurde die Sofia Soziologische Gesellschaft ins Leben gerufen. Immerhin nannten sich schon Ende 1969 nicht weniger als 806 junge Wissenschaftler Soziologen! Auch ein Institut für Soziologie entstand im Jahre 1968. Diese formalen und organisatorischen Maßnahmen hingen mit dem Weltkongreß zusammen. In Bulgarien wurden in den letzten Jahren auch inländische Wettrennen junger Soziologen, wie Sportwett-bewerbe in anderen Ländern, veranstaltet. Seit 1967 wuchsen die soziologischen Institutionen und Zentren wie Pilze aus der Erde. Das Hauptforschungsinstitut entstand neben dem Parteizentralkomitee, andere Zentren neben dem ZK der Jugend-massenorganisatiora Komsomol und in der Akademie der Wissenschaften, ja sogar beim Armeeoberkommando. Kleinere Gruppen von Soziologen sind tätig bei Körperschaften der LandesadminiistratJon und oft sogar nur auf Bezirksebene. Die Partei will aber Führung und Kontrolle nicht aus der Hand gleiten lassen. Die große Parade zu Varna stand daher unter dem Patronat des Parteichefs und Premiers Todor Schiwkoff und sie wurde weitgehend von der UNESCO gefördert. Der Weltkongreß verlief nicht ganz planmäßig. Die westlichen Teilnehmer waren von 400 sowjetischen und 500 bulgarischen Teilnehmern ab ovo in den Hintergrund gedrängt. Aus Sowjeteuropa allein waren 1300 Delegierte erschienen, die mehr als 40 Prozent der Referate lieferten. Das Zentralthema des Welttreffens lautete: „Gegenwärtige und zukünftige Gesellschaften — soziale Voraussage und Planung.“ Gleich in seiner Eröffnungsansprache bemühte sich Todor Schiwkoff, dessen wissenschaftliche Ambitionen und Erfahrungen auf diesem Gebiet bisher verborgen geblieben sind, zu suggerieren, daß soziologische Voraussage und Planung nur im sozialistischen System momentan möglich seien. Dabei rühmte er, nicht gerade bescheiden, die eigenen bulgarischen Anstrengungen der vergangenen Jahre.

32 Arbeitsgruppen entfalteten eine rege Tätigkeit während der sechs Tage an der Schwarzmeerküste. Das Plansoll an Parteisoziologie wurde scheinbar restlos erfüllt. Mehr als 1000 soziologische Arbeiten und Berichte wurden durchgekaut. Der zu-sarnmenfassende Kongreßreport soll Anfang 1971 publiziert werden, er wird vier Bände füllen. Die bulgarischen Massenmedien mußten den Ablauf des Weltkongresses bereits kommentieren, Interviews wurden veröffentlicht, Bücher besprochen, soziologische Werke ausgestellt, die Augen des TV waren auf den Kongreß gerichtet und Radiomikrophone vor und hinter den Türen der Verhandlungsräume aufgestellt, um der Welt die Überlegenheit der „sozialistischen Soziologie“ zu beweisen. Es muß zugegeben werden, daß die Planung sorgfältig und großzügig war. Sie nahm mehr als ein ganzes Jahr in Anspruch. Die Fachzeitschrift Sot-siologitscheski Problem (Nr. 3, 1970) nannte den Weltkongreß „das wichtigste Kulturereignis von internationaler Bedeutung in Bulgarien im Jahre 1970.“ Tatsächlich hatte erstmals die ISA (International So-ciological Association) ihren Weltkongreß in einem kommunistischen Land abgehalten. Allein dieser Umstand begründete das große Interesse der Gastgeber und der Gäste am Kongreß. Noch niemals haben sich so viele Länder durch so viele Repräsentanten an einer Soziologiekonferenz vertraten lassen. Noch nie wurden annähernd so viele Reports und Referate eingereicht! Auch manche Schönheitsfehler müssen registriert werden. Der Vater der Theorie „Die nachindustrielle Gesellschaft“, Professor Daniel Bell, der von den Marxisten wiederholt sehr scharf aufs Kam genommen wurde, blieb fern, obwohl sein Vortrag für die Eröffnungssession vorgemerkt war. Warum er fernblieb und ob sein Referat den Teilnehmern ausgehändigt wurde, ist hier nicht bekannt :.. Eine andere Überraschung war, daß Professor Rolf Dahrendorf aus der Bundesrepublik ebenfalls nicht erschienen war, obwohl er die Einladung angenommen hatte. Für dramatische Erregung sorgte nur der schwedische Professor Hammel»-stand, der als nichtkommunistischer Soziologe es gewagt hat, direkt und offen, die kommunistische soziologische Ideologie anzugreifen. Der Schwede kritisierte den „Dogmatismus des Marxismus sowjetischer Prägung.“ Die sowjetischen Wissenschaftler Mittin und Kon-stantinow gingen sofort zum Gegenangriff über.

Ungefähr 200 Delegierte biMeten während des Weltkongresses eine „Gruppe Radikaler Soziologen.“ Ihr Wortführer war der kanadische Professor Jean Vaillancourt. Am Ende wurde eine neue Führung für die ISA gewählt. Der amerikanische Professor Reuben Hill ist nunmehr der neue Präsident.

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