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Digital In Arbeit

Vier Prozent „noch tragbar“?

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Schockierte und nicht schockierte Amerikaner bombardieren einander augenblicklich mit mehr oder weniger guten Gründen, schockiert beziehungsweise nicht schockiert zu sein. Diskutiert wird ein sprunghaftes Steigen der Arbeitslosenzahl von dreieinhalb auf vier Prozent der Beschäftigten allein im September, einem Monat, in dem die Zahl der Stellungslosen traditionellerweise um 200.000 sinkt.

Die Arbeitslosigkeit setzt die Experten diesmal nicht nur durch ein höchst programmwidriges Steigen in einem sonst wegen seiner positiven Auswirkungen auf die Jahresstatistik beliebten Monat, sondern auch noch aus anderen Gründen in Erstaunen. Es wird allgemein als positives Detail einer negativen Erscheinung begrüßt, daß die Zahl der schwarzen Stellungsuchenden vom Trend verschont blieb — gegen alle bisherigen Erfahrungen. Während die Zahl der weißen Stellungsuchenden von 3,2 auf 3,6 Prozent der Beschäftigten kletterte, blieb die Zahl der schwarzen Stellungsuchenden mit 6,8 Prozent unverändert.

Dies entspricht einer bereits das ganze Jahr hindurch feststellbaren Tendenz, denn auch in den Vormonaten hat die schwarze Arbeitslosigkeit langsamer zugenommen als die weiße Arbeitslosigkeit. Den Grund dafür sehen viele Beobachter in einem Zögern der weißen Arbeitgeber, Leute zu „feuern“, die sie erst vor kurzem im Zusammenhang mit den Arbeitsbeschaffungsprogrammen für die schwarzen Ghettos auf genommen haben. Offensichtlich ist die Angst vor weiteren Rassenunruhen, anderseits aber auch die Hoffnung auf Rassenfrieden durch Besserstellung der Schwarzen, so groß geworden, daß sie das Handeln vieler Arbeitgeber direkt beeinflußt. Sonst sind immer die Schwarzen zuerst auf die Straße geflogen.

Neu und verblüffend ist auch die Zunahme der weiblichen Beschäftigtenzahlen in einer Periode steigender Arbeitslosigkeit. Während viele Wirtschaftsleute der Ansicht sind, daß die Arbeitslosenzahlen den Krisenpunkt erreicht haben, herrscht in einigen Wirtschaftszweigen drückender Mangel an Arbeitskräften. Re- public und Bethlehem Steel zum Beispiel stellten mehr als hundert Frauen als Kranführerinnen und in anderen typisch männlichen Bereichen ein — zum erstenmal seit dem zweiten Weltkrieg.

„Es wird nur wenige Entlassungen in der Industrie geben“, erklärte ein amerikanischer Werksvertreter, „anderseits werden jene, die neu in den Arbeitsprozeß eintreten, größere Schwierigkeiten als früher haben, Stellungen zu finden.’

Teenager ohne Job

Tatsächlich ist die steigende amerikanische Arbeitslosigkeit in erster Linie eine Arbeitslosigkeit der Jugend. Unter den 3,2 Millionen Ar beitslosen sind rund eine Million Teenager, die Hälfte von ihnen auf der Suche nach ihrem ersten Job. Von den verbleibenden Arbeitslosen sind die Hälfte Frauen, nur jeder Zweite von rund einer Million Amerikanern über 20, die Stellungen suchen, ist verheiratet.

150.0 Personen sind seit mehr als einem halben Jahr beschäftigungslos, sie bilden den „harten Kern“ des Arbeitslosenheeres, das hauptsächlich aus Jugendlichen, aus Frauen auf der Suche nach einer Nebenbeschäftigung und aus Personen besteht, die eine Stellung aufgegeben haben, um eine bessere zu suchen, in dieser nach wie vor weitverbreiteten Bereitschaft, einen Posten aufzugeben und einen neuen zu suchen, erblicken einige Beobachter eine Garantie für die strukturelle Gesundheit des amerikanischen Arbeitsmarktes — hätte man nicht nach wie vor gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt, gäbe man „den Spatzen in der Hand“ nicht so leicht auf, um „der Taube auf dem Dach“ nachzujagen.

Anderseits ist statistisch eindeutig festzuhalten, daß sich die Zeit, die für die Suche nach einem Posten aufgewendet werden muß, erheblich verlängert hat. Sie betrug bis zum neuerlichen Steigen der Arbeitslosenzahl im September rund fünfeinhalb Wochen. Jede Woche machen sich 530.000 Amerikaner auf die Stellungsuche, ein Fünftel von ihnen „schafft es“ innerhalb einer Woche, drei Viertel innerhalb eines Monats, nur ein Prozent benötigt mehr als sechs Monate. Alles in allem waren innerhalb eines Jahres 20 Millionen Amerikaner teilweise stellungslos.

Die Konkurrenz wird härter

Die Antiinflationsmaßnahmen der

Nixon-Administration werden die

Zahl der neuen Stellungssuchenden voraussichtlich von 530.000 auf

560.0 pro Woche erhöhen und dazu führen, daß jeder durchschnittlich eine Woche länger arbeitslos bleiben wird, man rechnet heute bereits mit einer durchschnittlichen Arbeitslosigkeit von sechseinhalb Wochen. 180.000 von denen, die jetzt ohne Arbeit sind, werden es mehr als sechs Monate bleiben, ihre Zahl wird auf 300.000 steigen. Schatzminister David M. Kennedy erklärte vor einem Kongreßausschuß vier Prozent Unbeschäftigte für „tragbar“, mußte diese Erklärung aber auf Anordnung des Weißen Hauses am nächsten Tag schleunigst wieder zurücknehmen. Die neueste Leseart lautet, jegliche Arbeitslosigkeit, wie unbedeutend auch immer, sei ein unglückseliger Zustand. Nixons Steuererhöhungspläne stoßen auf zunehmenden Widerstand. Auskünfte, welches Ausmaß die Arbeitslosigkeit erreichen müsse, um im Weißen Haus als „politisch untragbar“ empfunden zu werden, werden mit dem schlichten Hinweis: „Das wissen wir nicht, das hängt von so vielem ab !“ verweigert.

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