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Vom Jagdhüterbub zum Minister

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Fünfzig Jahre erlebte Geschichte. Von Oskar Helmer. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. 375 Seiten. Preis 135 S

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Fünfzig Jahre erlebte Geschichte. Von Oskar Helmer. Verlag der Wiener Volksbuchhandlung. 375 Seiten. Preis 135 S

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Der Bundesminister für Inneres hat Erinnerungen aus seinem Leben zu Papier gebracht. Durch die hohen Fenster im alten Palais Modena in der Wiener Herrengasse geht Oskar Helmers Blick zurück. Weit zurück. Sehr weit. Er findet seinen Horizont nicht allein in fünfzig Jahren erlebter, mitetlebter und mitgestalteter Geschichte, er umfaßt auch mit besonderer Liebe die Kindheit und Jugend im Jagdhüterhaus der Herrschaft von Ober-Waltersdorf am nördlichen Rande des großen Neustädter Steinfeldes, wo der spätere sozialistische Politiker und heute durch ein Dutzend Jahre amtierende Innenminister der Zweiten Republik vor siebzig Jahren geboren wurde.

Das niederösterreichische Dorf, seine Menschen und der nach jahrhundertealten Gesetzen geordnete Kreislauf ihres Lebens sprechen auch den an de» Schwelle zum achten Jahrzehnt in verantwortungsvoller Position wirkenden Politiker noch immer an:

Jede Jahreszeit hat im Dorfe ihre Eigenheit.

Die Vorbereitung zum Weihnachtsfeste ist wohl das Schönste, wenngleich in meiner Erinnerung auch haften geblieben ist, daß das Fest der Heiligen Drei Könige vielfach im gleichen Rang wie Weihnachten stand. Und wenn das Frühjahr ins Land kam, dann begann für uns Dorfkinder die schönste Zeit der althergebrachten Spiele, und erst gar, wenn die Sonne an Stärke zunahm und die winterfeifcltte Erde austrocknete. Da wurde das Schuhwerk bis in die späten Herbsttage hinein in der Kammer verstaut. Dann kam Ostern, das liebliche Fest, wo der Frühling seinen Einzug hielt. Durch Wochen hielt uns dieses schöne Fest gefangen. Im Mai freuten wir uns auf die Bittgänge durch die Felder… Der Maibaum war zweimal für die Dorfjugend eine besondere Ablenkung: beim Setzen und beim Umschnitt. Fronleichnam oder Pfingsten, die kirchlichen Visitationen, schließlich das Kirchweihfest brachten Abwechslung in das Dorf, und eine Hochzeit, wo dem Brautpaar durch die Burschen des Dorfes der Einzug in ihr Helm bis zu dem Zeitpunkt vor- ’ enthalten wurde, bis das Band des „Vorziehens" durch das Brautpaar durchschnitten und ein Happen Geld als Ablöse bezahlt wurde, war für uns Kinder die gleiche Feierlichkeit wie ein Begräbnis, noch dazu eines mit Musik, wenn die F euer wehr: und'die Veteranen dabei ausrückten. Und . dann. kam der Herbst Alles Geschehen im Dorf ist durch die Natur schön gegliedert, und durch das kirchliche Zeremoniell wird dieser natürlichen Gliederung ein besonderer Nimbus verliehen (S. 366 f.)

Auch der Setzerlehrling in Wiener Neustadt, der früh zur Sozialdemokratie stößt, wird sich den „Gravitationsgesetzen“ des niederösterreichhchen Landvolkes nie ganz entziehen. Auch nicht der junge Redakteur eines Lokalblattes, der prononcierte Parteimann, schließlich der in die Verantwortung für die Gesamtheit einrückende Minister. Immer hafteten an den Schuhen Oskar Helmers noch Reste der niederösterreichischen Heimaterde …

Diese „Erdenschwere" im besten Sinn des Wortes machte ihn auch, so überzeugt er sich der Fahne des Sozialismus verschrieben hatte, stets zurückhaltend gegen jeden ideologischen Irrationalismus. In Wolkenkuckucksheimen war nie sein Zuhause. Das bewies Helmer schon sehr früh, als er in den Wirren der Jahre nach dem ersten Weltkrieg der Agitation unter der aufgeputschten Neunkirchner Arbeiterschaft für den Anschluß an das Rate-Ungarn Bėla Kuns entgegentrat. Von seinem Einzug in den „Olymp“ der österreichischen Sozialdemokratie notiert der Verfasser heute, nachdem er den Großen der Partei seine Reverenz erwiesen hat, folgerichtig, daß er „von den Beratungen manchmal enttäuscht war“ (S. 100). Kein Wunder: die Art, in der Otto Bauer die Partei in jenen Jahren steuerte, mußte dem nüchternen Sinn der Gruppe der „Niederösterreicher“, die sich bald um Helmer scharte und die heute ein parteigeschichtlicber Begriff ist, entgegengesetzt sein. „Ich war schon immer ein Verfechter des demokratischen Weges, habe in anderen Zeiten davor gewarnt, von Diktatur des Proletariats auch nur zu reden oder gar diese im Falle einer Machtergreifung in Anspruch zu nehmen" (S. 347), bemerkt der Verfasser, mit deutlichem Bezug auf jene entscheidenden Jahre der Ersten Republik. So sehen wir Helmer auch am Vorabend des österreichischen Bürgerkrieges maßgebend an jener politischen Rettungsarbeit beteiligt, der leider der Erfolg versagt geblieben ist. (Zu der diesbezüglichen, sehr eingehenden und naturgemäß auch subjektiven Darstellung Helmers empfiehlt es sich — da die beiden Bücher durch Zufall beinahe gleichzeitig erschienen sind —. die einschlägigen Kapitel aus dem zweiten Band der Memoiren Dr. Fundes nachzulesen.)

Dem scheinbaren Ende folgte nach einem Jahrzehnt ein neuer Anfang. Er findet Helmer bereit. Wann immer vom Hineinwachsen der österreichischen Sozialisten in die Verantwortung für den Staat die Rede ist, wird der Name Oskar Helmers stets an hervorragender Stelle genannt werden müssen. Zwölf Jahre an der Spitze des Innenministeriums haben von dem Verfasser mehr als einmal eine Probe seiner Staats-

und Koalitionsgesinnung abverlangt. Niemand anderer als Bundeskanzler Raab hat dieselbe erst vor wenigen Tagen in seiner Geburtstagsansprache an den Jubilar bezeugt: „Wenn wir auch politische Gegner sind, so habe ich doch die Berechtigung, dich Freund zu nennen, denn es verbindet uns eine jahrzehntelange Freundschaft, die sich in schwierigen Situationen immer wieder bewährt hat."

Zwei auf Dr. Renner bezugnehmende Bemerkungen seien aus dem vorliegenden Buch hervorgehoben. In der einen gibt der Verfasser für Doktor Renners umstrittene Pro-Anschluß-Erklärung im „Neuen Wiener Tagblatt“ im Jahre 1931 die bisher unbekannte Begründung an. Renner habe dadurch Dr. Danneberg von der Gestapo freizukaufen gehofft. An einer anderen Stelle vergißt Helmer nicht einen Brief Renners aus dem Jahre 1930 zu zitieren,

in dem dieser eine Wiederwahl zum Bundespräsidenten ablehnt und verspricht, Helmer für das höchste Amt im Staate vorzuschlagen …

Von den leider sehr summarischen und zeitlich nicht geordneten Kapiteln, in denen Helmers Wirken als Innenminister seinen Niederschlag findet, empfiehlt sich vor allem jenes, das der Säuberung der kommunistisch durchsetzten Polizei, die Helmer aus der Aera Honner übernommen hatte, besondere Beachtung.

Bei aller Deutlichkeit des politischen Standortes ist das Buch, vor allem wenn Urteile über Personen gefällt werden, in der Regel von Mäßigung getragen. Eine Ausnahme: sie betrifft Staatssekretär a. D. Kar- winsky. Hier dürften leider persönliche Animositäten dem Autor mit in die Feder geflossen sein.

An „Errata“ seien festgehalten: Bei dem bekannten Handgranatenattentat, das 1933 zum Verbot der NSDAP führte, wurde nicht „ein Zug, von Turnern besetzt“, überfallen (S. 143), sondern ein Zug (militärische Einheit) auf dem Heimmarsch von einer Schießübung. „Erlässe" sind iro kirchlichen Raum nicht bekannt. Der Rückzug der Priester aus dem politischen Raum wurde deswegen auch nicht durch einen solchen geregelt.

Zu dem graphisch gelungenen Schutzumschlag, der ein Fahnenband wiedergibt, das jene politischen Farben zeigt, unter denen der Verfasser 50 Jahre Geschichte erlebte, ist noch — selbst auf die Gefahr, der Beckmesserei geziehen zu werden — anzumerken, daß die Fahne des Dritten Reiches nicht das wilhelminische Schwarz-Weiß-Rot, sondern das Hakenkreuzbanner war.

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