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VON NEUEN BÜCHERN

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Die Statistik als Spiegel der geistigen Situation

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Die Statistik als Spiegel der geistigen Situation

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Wenn wir versuchen, die statistischen Ergebnisse der Buchproduktion 1951 in Europa als Spiegel der geistigen Situation zu betrachten, so geschieht das mit dem Vorbehalt, mit dem jede Statistik zu rechnen hat. Die Ijirfassungsmethode und die Gruppenein- teilurig der verschiedenen Nationalbiblio- graphien sind nicht immer übereinstimmend. Es kann aber doch gesagt werden, daß die Statistik der Buchproduktion ein verhältnismäßig verläßliches Barometer für die wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse eines Landes und eines Zeitraumes ist. Durch Gegenüberstellung und Vergleich können die Schwankungen des Interesses und der Kaufkraft festgestellt werden. Um ein möglichst sicheres Urteil abgeben zu können, sind erfahrungsgemäß nur die Ziffern größerer Zeiträume aufschlußreich. Wir haben deshalb in den folgenden Aufstellungen die Ziffern für 1951 immer auch in Relation zu mehreren Vorjahren gebracht. Der Produktion des in deutscher Sprache gedruckten Buches haben wir besondere Beachtung geschenkt, weshalb vorwiegend die Ziffern für Österreich, Schweiz und Gesamtdeutschland (Deutsche Bundes- und Deutsche Demokratische Republik) i verwertet wurden.

Dabei stoßen wir selbst in der verhältnismäßig einfachen Statistik auf das Übel, daß die ostdeutsche Poduktion mit der westdeutschen nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist. Die Erfassungsmethode der Deutschen Bücherei in Leipzig ist eine andere wie die der Deutschen Bibliothek in Frankfurt a. M. Bis 1948 sind die Zahlen der Deutschen Bücherei in Leipzig maßgebend. Für 1948 existiert überhaupt keine amtliche Statistik, so daß wir die von F. H. Schulz in seinem ausgezeichneten Buch „Das Schicksal der Bücher“ errechneten Ziffern für 1940 und 1950 verwenden. Für 1951 hat der Börsenverein der deutschen Buchhändler in Frankfurt erstmalig nach dem zweiten Weltkrieg exakte Zahlen für die Produktion in Ost- und Westdeutschland errechnet.

Alle Ziffern enthalten die Veröffentlichungen des regulären Buchhandels und keine Zeitschriften, lediglich die Österreichische Nationalbibliographie, die erst seit 1945 geführt wird, enthält auch Veröffentlichungen, die außerhalb des Buchhandels erschienen sind (Dissertationen, Selbstverläge usw.).

Die Gesamtproduktion in Deutschland

In 1 nachstehender Übersicht haben wir die Anzahl der Veröffentlichungen in 16 verschiedenen Jahren, seit 1911, verzeichnet. Wir haben besonders solche Jahresproduktionen herausgegriffen, die für die Entwicklung kennzeichnend sind.

Titel 1911 (vor dem ersten Weltkrieg) 32.998 1913 (Höhepunkt der Produktion über

haupt) 35.078

19171 (im ersten Weltkrieg) 7.573

1922 (Inflation) 30.804

1924 (normale Entwicklung) 23.599

1927 (Höhepunkt nach dem ersten

Weltkrieg) 31.026

1932 (Wirtschaftskrise) 21.452

1936; (im Dritten Reich) 23.654

1938 (letztes Friedensjahr) 25.439

1941 (im zweiten Weltkrieg) 20.615

1944 (im zweiten Weltkrieg) 11.714

1947 (nach der Niederlage) 8.901

1948 (vor der Währungsreform) 13.441

1949 (Erholung) 19.592

1950 18.055

1951 17.616

Wir sehen, daß die Zahl der neuen Bücher, einscjhließlich der Neuauflagen, von den jeweiligen geschichtlichen und politischen Ereignissen abhängig ist. Im Krieg sinkt die Prodjuktion. Nach dem Krieg ist ein hektisches Ansteigen festzustellen, bis sich durch die Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine normale Produktion einspielt. Die Zahl der Veröffentlichungen des letzten Frieäensjahres 1913 ist bisher nie mehr erreicht worden.

Die Buchproduktion europäischer Länder 1948 bis 1951

wird aus nachstehender Tabelle ersichtlich:

Anzahl der Titel in den Jahren 1948 1949 1950 1951

Österreich 4.099 3.126 2.977 3.409

Schweiz 3.562 3.527 3.601

Gesamtdeutschland 13.441 19.592 18.055 17.616

Frankreich 14.143 12.526 11.850 11.850

Großbritannien 17.072 18.066

Deutschland erreicht ein Jahr später die hektische Produktionsziffer der Nachkriegszeit als die übrigen Länder. Seit 1950 ist die Produktion ausgeglichen. Außer in Frank- reiclį ist gegenüber 1950 ein leichter Anstieg im Jahre 1951 zu verzeichnen (Österreich um 11%, Schweiz um 2%, Großbritannien um 6%.j Die niederere Ziffer für Gesamtdeutschland dürfte von der gegenübe, den Vorjahren verschiedenen Erfassungsmethode herrühren.

Von besonderem Interesse ist der Hundert-

F. H. Schulz, Das Schicksal der Bücher. W. de Gruyter u. Co., Berlin 1952.

satz der Neuauflagen. Für das Jahr 1951 ergeben sich folgende Zahlen:

Von der Gesamtproduktion sind Neuauflagen:

11% für Österreich

29% für Gesamtdeutschland

27% für Großbritannien

Ein hoher Hundertsatz an Neuauflagen läßt im allgemeinen auf eine hohe Kaufbereitschaft schließen.

Wieviel Veröffentlichungen entfallen auf 1000 Einwohner?

Nach den Produktionsziffern des Jahres 1951 ergeben sich folgende Kopfquoten:

Einwohner Anzahl Durchschnittliche

in der Veröffentlichungen

Tausend Titel auf 1000 Einwohner Österreich 7.090 3.409 0,48

Schweiz 4.609 3.601 0,78

Gesamtdeutschland 65.151 17.616 0,27

Die Schweiz ist also weithin führend. Österreich schneidet gut ab. Die deutsche Quote ist niedrig, betrug sie doch vor dem ersten Weltkrieg 1 auf 1000 Einwohner.

Die Schweiz und Österreich können als ausgesprochene Exportländer angesehen werden. Dies ist besonders für Österreich bedeutsam, Wenn man bedenkt, daß viele österreichische Wissenschaftler und Schriftsteller ihre Manuskripte in deutschen Verlagen erscheinen lassen. Bei der Schweizer Kopfquote fällt ins Gewicht, daß nur 70% der Gesamtproduktion in deutscher Sprache verfaßt ist.

Anteil der einzelnen Gruppen an der Gesamtproduktion

Aus der nachstehenden Tabelle läßt sich das geistige Interesse der einzelnen Länder an den verschiedenen Literaturbereichen ablesen, da die Produktion sich stets nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage reguliert.

Die Übersicht ergibt, daß in allen drei Ländern der „Schönen Literatur“ der überragende Anteil an der jeweiligen Gesamtproduktion zukommt. Daß er in Österreich niedriger ist als in den beiden anderen Ländern, erklärt sich aus der Struktur der österreichischen Verlage. Es gibt nur einen ausgesprochen belletristischen Verlag, Paul Zsölnay in Wien, und den erst seit den zwanziger Jahren. In Österreich ist dazuhin noch eine sinkende Tendenz der Belletristik festzustelleh (1948: 27%, 1949: 20%, 1950:

13,5%, 1951: 14%). In der Schweiz fällt die Kurve von 26,4% im Jahre 1945 auf 19,8% im Jahre 1951, während die deutsche Zahl von 19% dem Durchschnitt von 37 Jahren fast entspricht.

Es folgen dann die Gruppen „Jugendschriften" und „Schulbücher", die von jeher an dritter und vierter Stelle stehen. Die Gruppe „Gesellschaft, Wirtschaft“ ist nicht einzubeziehen, da die österreichische Zahl

Vergi, auch meinen Artikel in der .Furche' vom 1 . Juni 19511.

allein 257 Veröffentlichungen aufweist, die außerhalb des Buchhandels erschienen sind. Dasselbe ist auch bei den drei letzten Gruppen in Österreich der Fall. Der Anteil der Gruppe „Religion, Theologie" ist in Österreich rückläufig, von 12,3% des Jahres 1945 auf 5,2% des Jahres 1951. Die Schweiz ist in dieser Gruppe führend.

Die Lage in Österreich

Die trotz der Steigerung des durchschnittlichen Buchpreises von S 17.— im Jahre 1950 auf S 21.— im Jahre 1951 festgestellte Erhöhung der Gesamtproduktion darf nicht zu Trugschlüssen führen. Zwei Drittel der 11 %- igen Erhöhung gegenüber 1950 entfallen auf Dissertationen und Erscheinungen außerhalb des Buchhandels, fallen also wirtschaftlich nicht ins Gewicht. Die Gruppe „Naturwissenschaft“ umfaßt allein 200 Dissertationen, die Gruppe „Medizin“ 132 Dissertationen und 139 außerhalb des Buchhandels liegende Veröffentlichungen und 15 Neuauflagen. Auch die Gruppe „Geschichte, Volkskunde“ zählt nur 3 Neuauflagen, 132 Dissertationen und 147 außerhalb des Buchhandels liegende Erscheinungen. Von den 480 Titeln der Belletristik sind 105 Neuauflagen und 134 Übersetzungen, davon 80 aus dem Englischen und 21 aus dem Französischen.

Auflagenhöhe und bleibender Wert

Zwei Faktoren blieben in unserer Betrachtung unberücksichtigt: Die Zahl der verbreiteten Bücher, die sich durch die Multiplikation der erschienenen Veröffentlichungen mit der jeweiligen Auflagehöhe ergibt, und der absolute Wert der einzelnen Erscheinung. Der erste Faktor läßt sich nur schätzungsweise errechnen, der zweite überhaupt nicht. Die Erstauflage bei belletristischen Büchern, also jener Gruppe, die den Höchstanteil an der Gesamtproduktion einnimmt, beträgt 3000 bis 5000 Exemplare. Es gibt aber auch i

Titel aus anderen Gruppen, die eine beträchtlich hohe Erstauflage aufweisen, ganz abgesehen von den Neuauflagen. Schulz hat die erfolgreichsten Bücher des Jahres 1950, die In diesem Jahr ihre 100. Auflage überschritten haben, untersucht und kam zu interessanten Ergebnissen. So verzeichnet Dahns „Kampf um Rom“ mit einer Lebensdauer von 75 Jahren (seit dem ersten Erscheinen) die 151. Auflage, Künzles „Chrut und Unchrut“ seit 39 Jahren die 176. Auflage, Remarques „Im Westen nichts Neues“ seit 22 Jahren die 180. Auflage. Schillers „Wilhelm Teil“ hat zum Beispiel in Rečiams Universalbibliothek schon über 5,34 Millionen Auflage, und die Bibel ist noch immer das Buch mit der höchsten Auflage in allen Ländern.

Der andere unberechenbare Faktor ist der bleibende Wert der einzelnen Veröffentlichung. Welche Bücher werden Bestand haben, auch in ferner Zukunft? Besteht nicht eine erschreckende Diskrepanz zwischen der Masse der Neuerscheinungen und dem absoluten Wert des einzelnen Buches?

Von der großen Verantwortung, die allen am Schrifttum Beteiligten, den schöpferischen und den vertreibenden Kräften auferlegt ist, spricht Lichtenberg in dem heute mehr denn je gültigen Wort:

„Mehr als das Gold hat das Blei die Welt verändert, und mehr als das Blei der Flinte ist es das Blei des Setzkastens gewesen!“

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