sen - © Foto: IMAGO / Hindustan Times

Amartya Sen: Kein Essen für die Armen

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In seinen Memoiren „Zuhause in der Welt“ erinnert sich der Philosoph Amartya Sen an seine Jugend im Indien der 1930er Jahre – und an die Krisen, die ihn geprägt haben.

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In seinen Memoiren „Zuhause in der Welt“ erinnert sich der Philosoph Amartya Sen an seine Jugend im Indien der 1930er Jahre – und an die Krisen, die ihn geprägt haben.

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Das Nobel-Museum fragte den frisch gebackenen Preisträger um eine Dauerleihgabe. Amartya Sen, gerade mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt, spendete sein altes Fahrrad und eine Ausgabe des indischen Mathematik-Klassikers „Aryabhatiya“. Das in Sanskrit abgefasste Werk aus dem Jahr 499 war ihm stets hilfreich gewesen, begründete der rund um Kalkutta aufgewachsene Sen seine Wahl. Und das Fahrrad, das er als Jugendlicher geschenkt bekommen hatte, habe ihm ermöglicht, Daten über Löhne und Preise an unzugänglichen Orten wie alten Bauernhöfen und Lagerhallen zu sammeln, als er die bengalische Hungersnot untersuchte. Mit diesem Fahrrad habe er auch die Waage transportiert, mit der er Buben und Mädchen wog, um Unterschiede bei Mangelerscheinungen zwischen den Geschlechtern zu prüfen. „Das Fahrrad fuhr ich über 50 Jahre – bis 1998, als das Nobel-Museum es in Verwahrung nahm“, erzählt der Ökonom und Sozialphilosoph Amartya Sen in seinen in Buchform erschienen Erinnerungen.

Wo die Moral verloren geht

Als zehnjähriger Bub bekam er die große Hungersnot im damaligen Bengalen einschneidend mit. Die Straßen waren voll von ausgezehrten, notleidenden Menschen. „Zum ersten Mal in meinen Leben sah ich Leute wirklich Hungers sterben.“ Wie fast alle Hungersnöte war auch die bengalische von 1943 eine „klassenbasierte Katastrophe“. Wohlhabende Familien waren nicht betroffen, einkommensarme massiv. „Der Albtraum ließ in mir den Entschluss reifen, alles zu tun, was ich konnte, damit Hungersnöte nie mehr vorkommen“, schreibt Sen. Seine geliebte Großmutter erzählte dem Buben von einer Mutter, die furchtbar weinte, während sie etwas Essen, das sie von irgendwoher ergattert hatte, selber verschlang, anstatt es dem ausgemergelten Kind auf ihrem Schoß zu geben. „Der Hunger erzeugte eine Art von moralischer Degeneration bei den Leuten, denen die völlig ihrer Kontrolle entglittenen Umstände schwer zusetzten.“ Amartya Sen untersuchte eine Reihe von Hungersnöten. Seine Ergebnisse waren bahnbrechend für neue effektivere Maßnahmen zur Verhinderung von Hunger. Seine überraschende Erkenntnis: Hungersnöte entstehen nicht, weil es zu wenig Nahrung gibt. Hunger heißt, dass die Armen kein Geld haben, sich etwas Essbares zu kaufen. Er stellte den bisherigen Zugängen einen neuen Ansatz gegenüber, in dessen Zentrum legale Ansprüche auf Nahrung stehen. Menschen können Nahrungsmittel selbst produzieren, eigene Ressourcen gegen Nahrung tauschen oder mit staatlicher Unterstützung versorgt werden. Hunger entsteht, wenn die eigenen Ressourcen oder ihr Tauschwert sinken und der Staat keine ausreichende Kompensation bereitstellt.

Der Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore gründete Anfang des 20. Jahrhunderts eine Schule im Shantiniketan, Westbengalen. Die Vorlesungen und Seminare wurden unter Mangobäumen im Freien abgehalten. Hier wurde Sen geboren, dort wuchs er auf, dort ging er zur Schule. Noch bevor der Bub Englisch sprach, lernte er Sanskrit. Er atmete die Luft der Dichterschule mit Naturwissenschaften, Philosophie und vielem Argumentieren.

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