"Unser soziales Netz hat große Löcher“

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Immer breitere Schichten sind armutsgefährdet. Wie Armut entsteht, verstärkt wird und welche Auswege es gibt, erklärt der Sozialwissenschaftler Nikolaus Dimmel.

Die Armutsbedrohung breiter Schichten ist zu einem der größten Probleme der österreichischen Wohlstandsgesellschaft geworden. Neben traditionell armutsgefährdeten Gruppen wie Alleinerzieherinnen, kinderreichen Familien und Immigranten aus Drittstaaten rutschen immer mehr Mitglieder der Mittelschicht in die Prekarität ab. Der Rechts-Soziologe und Politikwissenschaftler Nikolaus Dimmel von der Universität Salzburg über die jüngsten Erkenntnisse der Armutsforschung, die in dem Sammelband "Handbuch Armut in Österreich“ (s. unten) zusammengefasst sind.

Die Furche: Der Armutsbegriff ist ja relativ. Die EU-weite SILC-Grenze (Statistics on Income and Living Conditions) liegt bei 1090 Euro netto, in einer Stadt wie Linz benötigt man Ihren Untersuchungen nach 1270 Euro zum Leben. Die bedarfsorientierte Mindestsicherung - quasi die vom Sozialgeber erlassene Armutsschwelle - liegt bei nur 770 Euro. Ab wann ist man denn nun arm?

Nikolaus Dimmel: Ein pragmatischer Zugang wäre: Wer kann sich das Wohnen in der Stadt Salzburg noch leisten? Dort kostet eine 70-Quadratmeter-Wohnung 1000 Euro Kalt-Miete. Da scheiden Berufsgruppen wie Supermarkt-Regalbetreuer oder Rechtsanwaltsgehilfen von vornherein aus. Wie sollte eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern so eine Wohnung bezahlen? Wenn ich heute unter 1300 netto verdiene als alleinstehende Person, habe ich ein Problem.

Die Furche: Seit der ersten Auflage des "Handbuchs der Armut in Österreich“ im Jahr 2009 ist die Anzahl der armutsgefährdeten Menschen von einer Million auf 1,2 Millionen gestiegen.

Dimmel: Die österreichische Gesellschaft entwickelt sich in Richtung einer brasilianischen Verteilungsstruktur: Die unteren 50 Prozent besitzen fünf Prozent. Dann gibt es eine schrumpfende Mittelschicht und die obersten fünf Prozent haben wirklich Kohle: 1 Billion Euro. Aber es halten sich fast alle Österreicher für Mittelschichts-Angehörige, ob sie 1000 oder 5000 Euro netto verdienen.

Die Furche: Was bedeutet es konkret, "armutsgefährdet“ zu sein?

Dimmel: Armutsgefährdet zu sein bedeutet etwa, nicht ausreichend heizen zu können, plötzlich entstehende Kosten nicht begleichen zu können oder niemanden zum Essen einladen zu können. Ohne sozialstaatliche Transfers wären 42 Prozent aller Menschen in Österreich armutsgefährdet. Durch Umverteilungsmaßnahmen wird dieser Anteil auf zwölf Prozent reduziert.

Die Furche: Armut wird erwiesenermaßen vererbt. Welche sind die spezifischen Probleme der Kinderarmut?

Dimmel: Wenn man im Kindesalter Chancen wegnimmt, kann man die daraus resultierenden Defizite - verbal, sozial, gesundheitlich, ökonomisch - nie wieder gutmachen. Die meisten Armen entwickeln eine völlig verquere materialistische Logik: "Ich kauf mir lieber das neueste i-Phone als dass ich mich gescheit ernähre oder bilde.“ Defizitäre Gesundheit und Bildung ziehen hohe Folgekosten nach sich. Auch die Schulen sind neoliberal verwahrlost: Die Eltern müssen immer mehr finanziell beitragen zu jedem Unsinn, damit die Kinder nicht von Aktivitäten ausgeschlossen sind. Man bräuchte einen Elternführerschein, also eine verpflichtende Elternqualifikation. Und zusätzlich eine Kinder- und Jugendhilfe, die präventiv in problematische Familien geht. Die Erziehungsleistung der Eltern sollte ständig evaluiert und begleitet werden.

Die Furche: Im Geschlechtervergleich sind Frauen das arme Geschlecht. Was läuft falsch in Österreich?

Dimmel: Das heimische System bezahlt Frauen in Form des Kindergeldes dafür, dass sie vom Arbeitsmarkt wegbleiben, es pönalisiert den Wiedereintritt in den Arbeitsmarkt - weil Frauen nach der Babypause wesentlich weniger verdienen als zuvor. Kinderbetreuungs-Plätze sind nicht vorhanden oder teuer. Durch dieses skurrile System, dass Frauen nur "dazuverdienen“ sollen, gibt es eine massive Zahl von älteren armen Frauen. In Skandinavien oder Frankreich hingegen bekommen die qualifiziertesten Frauen die meisten Kinder. Sie bleiben vier bis sechs Monate beim Kind. Dort gibt es ganz flexible familiy-work-life-balance-Systeme, einen Rechtsanspruch auf Kinder-Tagesbetreuung, ein breites Angebot an gratis Familienleistungen. Diese Frauen werden quasi gleich bezahlt wie Männer im Gegensatz zu Österreich, es gibt keine gläsernen Decke wie hier. Die familiäre Gewalt dort ist viel geringer und die weibliche Altersarmut ist verschwindend.

Die Furche: Was kritisieren Sie an der derzeitigen Gestaltung der bedarfsorientierten Mindestsicherung?

Dimmel: Sie ist nicht bedarfsgerecht, sie ist keine Mindestsicherung, sie liegt fast 300 Euro unter der EU-SILC-Schwelle und fast 500 Euro unter der österreichischen Referenz-Schwelle. Früher hatte man einen Rechtsanspruch auf einen Kühlschrank, eine Waschmaschine, ein Bett. Heute muss man darum betteln, die Leistung kann einem auf Null gestrichen werden. Das heißt, wir haben im letzten sozialen Netz die Falltür offen und jemand kann durchfallen in eine indische Lebensrealität. Etwa, wenn die Behörden der Meinung sind, jemand setze seine Arbeitskraft nicht angemessen ein. Das ist ein sozialpolitisches Desaster.

Die Furche: Dabei ist Österreich immerhin eines der reichsten Länder der Welt.

Dimmel: In Österreich gibt es 24 Milliardäre, 78.000 Millionäre, wir sind das drittreichste Land der EU. Wir brauchen eine Vermögenssteuer, eine Erbschaftssteuer, eine funktionierende Börsenbesteuerung. Dank Bankgeheimnis sind wir eine international aufgesuchte Steueroase, eine große Schwarzgeld-Waschmaschine. Vollzeit-Gehälter unter 1000 Euro netto sind absurd. Wir haben kein funktionierendes Mindestlohn-Gesetz. Die Furche: 350.000 Menschen in Österreich zählen zu den "Working Poor“: Sie sind trotz regelmäßiger Arbeit arm oder armutsgefährdet.

Dimmel: Atypisch Beschäftigte müssen oft mehrere Jobs gleichzeitig machen, und können noch immer keine ausreichende Eigenpensionen erwirtschaften. Es bräuchte dringend ein Mindestlohnrecht, eine Entlastung der Arbeit von Steuern und Abgaben. Es ist eine Wahnvorstellung, dass man mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen die Leute zur Arbeit zwingen kann. Weniger gebildete Menschen finden keinen nachhaltigen Zugang mehr zum ersten Arbeitsmarkt. Es bräuchte einen dritten Arbeitsmarkt, wo die öffentliche Hand Beschäftigungsmöglichkeiten schafft.

Die Furche: Wie sehr ist Armut sichtbar?

Dimmel: Die meisten kaschieren das natürlich so gut wie möglich. Sie borgen sich Dinge aus oder erfinden Ausreden, um sich nicht outen zu müssen. Unter den Armen gibt es auch kaum Vernetzung. Im Warteraum des Sozialamtes hält jeder jeden für einen Sozialschmarotzer. Man selbst ist der einzige ehrliche und berechtigte Arme.

Die Furche: Arme Menschen sind mit vielen Vorurteilen konfrontiert. Welche sind die gängigsten und wie entkräften Sie diese?

Dimmel: Diese habitualisierte Kultur der Armut - die dicken Tauschfrauen auf RTL II - das ist eine mediale Konstruktion, eine Art Softporno für Unterschichten. In Wirklichkeit sind die meisten armen Menschen sehr pragmatisch: Etwa eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und einem Job - das ist hochgradig gut organisiertes Management. Die Idee, dass diese Leute zu blöd oder faul sind, halte ich für völlig falsch. Ein weiteres Vorurteil lautet: Die Armen seien inaktiv. In Wirklichkeit sind sie ständig damit beschäftigt, Geld herbeizuschaffen, zu pfuschen, Dinge zu reparieren. Viele meinen, die Armen seien selbst schuld. Aber die meisten haben keine Chance, da rauszukommen. Bildungsbenachteiligung ist in Österreich ein geschlossener Prozess.

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