6791173-1970_38_08.jpg
Digital In Arbeit

Abstinenz in Freiheit

19451960198020002020

Mit der vorzeitigen Verlängerung des finnisch-sowjetischen Vertrages „über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“, dessen Laufzeit kürzlich bis 1990 prolongiert wurde, obwohl er noch fünf Jahre mit anschließender automatischer Fortwirkung in Kraft geblieben wäre, hat sich Finnland noch dauerhafter, aber keineswegs enger an die Sowjetunion gebunden.

19451960198020002020

Mit der vorzeitigen Verlängerung des finnisch-sowjetischen Vertrages „über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“, dessen Laufzeit kürzlich bis 1990 prolongiert wurde, obwohl er noch fünf Jahre mit anschließender automatischer Fortwirkung in Kraft geblieben wäre, hat sich Finnland noch dauerhafter, aber keineswegs enger an die Sowjetunion gebunden.

Werbung
Werbung
Werbung

Die vorzeitige Verlängerung des Vertragswerkes könnte sogar geeignet sein, den innenpolitischen Spielraum zu erweitern und Kräften, die das Vertrauen der sowjetischen Führungsspitze nicht im gleichen Ausmaß genießen wie der jetzige Staatspräsident Kekkonen und die neue Regierung unter Karjalainen, das Entree in künftige finnische Regierungen erleichtern. Die nächsten Reichstagswahlen finden 1974 statt. Automatische Prolongation oder Kündigung des finnisch-sowjetischen Freundschafts- und Beistandspaktes, ohnehin eine sehr theoretische Frage, ist nunmehr jeglicher Erörterung im Wahlkampfklima entrückt. Regierungsbildungen nach Parlamentswahlen stoßen in Finnland sowieso auf zusätzliche, in anderen westlichen Demokratien unbekannte Schwierigkeiten: Es wird in Finnland großer Wert auf Regierungen gelegt, die das Vertrauen der Sowjetunion genießen. Es ist eine für Ausländer mitunter schwer verständliche Tatsache, daß die Berücksichtigung diesbezüglicher sowjetischer Wünsche ohne massiven Druck von außen, sozusagen in einem Akt freiwilliger politischer Enthaltsamkeit vollzogen wird.

Das war nicht immer der Fall. 1958 brachte indirekter, aber massiver sowjetischer Druck (Abreise des Botschafters, Einfrieren wirtschaftspolitischer Verhandlungen) die Regierung des Sozialdemokraten Fager-holm zu Fall. Es fehlte nicht an sozialdemokratischen Beschuldigungen, Kekkonen habe diese sowjetischen Reaktionen mehr oder weniger direkt „bestellt“, um die Sozialisten zurückzudrängen. Welche Schlüsselposition Kekkonen. in den finnischsowjetischen Beziehungen zukommt, hat niemand so deutlich ausgesprochen wie Chruschtschow, der 1960 sagte: „Wer immer für Kekkonen ist, ist für die Freundschaft mit der Sowjetunion, wer immer gegen Kekkonen ist, ist gegen die Freundschaft mit der Sowjetunion!“ Finnland ist zwar, einerseits, ein neutraler Staat, der so wie Österreich seine Neutralität entsprechend seinen außenpolitischen Interessen selbst interpretiert (siehe unser Interview mit Außenminister Les-kinen auf dieser Seite). Anderseits aber ist Finnland unter seinem bürgerlichen Präsidenten Kekkonen und vorwiegend bürgerlichen Regierungen stets darauf bedacht, nicht auf Kollisionskurs mit dem mächtigen Nachbarn zu geraten. Finnlands KPF ist zwar Regierungspartner (drei Minister im neuen Kabinett), innenpolitisch aber eine eher zu vernachlässigende Kraft. Finnland ist eine westliche, oder besser nordische Demokratie. Das Land war jahrhundertelang von Schweden, und seit Beginn des vorigen Jahrhunderts als Großfürstentum direkt von Rußland abhängig, konnte aber eigenständige politische Institutionen und ein Gefühl der nationalen Identität entwickeln. 1917 wurde Finnland unabhängig. Das bürgerlich regierte Land geriet nahezu zwangsläufig in den Konflikt mit dem bolschewistischen Rußland. Der 1948 geschlossene Freundschaftsund Beistandspakt ermöglichte Deutschlands Verbündetem im zweiten Weltkrieg (und Gegner in der letzten Kriegsphase) einen beneidenswert reibungslosen Ubergang in eine Nachkriegsepoche, in der an eine antisowjetische Politik in so unmittelbarer Nachbarschaft nicht mehr zu denken war, Finnland aber jede Besetzung, jede Gefährdung seiner politischen Strukturen und seiner Gesellschaftsordnung erspart blieb. Der Preis hieß: Gebietsverluste im Norden und Neutralität. Der oft mißdeutete Beistandspakt garantiert der Sowjetunion, daß Finnland nicht zum Aufmarschgebiet ihrer Gegner werden kann. Es handelt es sich um einen nominell gegen Deutschland gerichteten Vertrag, dessen Artikel 1 mit den Worten beginnt: „In dem Fall, daß Finnland oder die Sowjetunion über das finnische Gebiet von selten Deutschlands oder eines anderen mit demselben verbündeten Staates Gegenstand eines bewaffneten Angriffes werden, wird Finnland, treu seinen Verpflichtungen als selbständiger Staat, zur Abwehr des Angriffes kämpfen.“

Der Vertrag garantiert beiden Teilen Freiheit von Furcht. Finnland unterhält Handelsmissionen in beiden deutschen Staaten, ohne einen davon anerkannt zu haben. Finnland hat sich nach dem Vertragswortlaut lediglich innerhalb seiner Grenzen zu verteidigen. Ob sowjetische Unterstützung nötig ist, wird in gemeinsamen Konsultationen entschieden, deren Notwendigkeit aber nicht einseitig von der Sowjetunion festgestellt werden kann. Finnland ist von militärischen Verpflichtungen außerhalb seiner Grenzen frei. In der politischen Praxis kommt Finnland der Sowjetunion in Fragen seiner Regierungszusammensetzung weit über seine vertraglichen Verpflichtungen hinaus entgegen. Dieses Entgegenkommen steht aber zumindest teilweise auch im Dienst innenpolitischer finnischer Interessen. Mit dem Hinweis auf die Zornesrumzeln im Gesicht des „Großen Bruders“ läßt sich manche Veränderung hintanhalten.

Durch die Verlängerung des Freundschafts- und Beistandspaktes auf weitere zwanzig Jahre ist die Sowjetunion von jeder Befürchtung befreit, eine finnische Regierung mit

— vom sowjetischen Standpunkt aus

— „weniger vertrauenswürdiger“ Basis könnte den Pakt kündigen, was ab könnte den Pakt kündigen, was ab 1975 alle fünf Jahre mit jeweils einjähriger „Kündigungsfrist“ möglich gewesen wäre. Dies könnte gegenwärtigen Regierungsaußenseitern wie der konservativen Nationalen Sammlung oder der Kleinlandwirtepartei, die als außenpolitisch unzuverlässig gelten, das Odium der Gefährlichkeit nehmen und sie mini-strabel machen. Ein wesentliches Argument, das gegen sie ins Treffen geführt werden konnte, ist jedenfalls gefallen. Das Ergebnis könnte sein, daß sich Finnlands Innenpolitik von dem Odium befreit, in ihren Entscheidungen nur so weit frei zu sein, so weit es Moskau erlaubt. Eine Beschränkung, die schon in den letzten Jahren mehr durch den Brauch gedeckt war, als durch vertragliche Abmachungen oder eine echte Gefährdung von außen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung