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Englands Schild

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Der britische Wohlfahrtsstaat kostet viel Geld, und jedenfalls mehr, als mit den Erfordernissen der äußeren Sicherheit vereinbar ist. Davon ist niemand tiefer überzeugt, als der altgediente Offizier der Royal Navy, der sich etwa fünfzig Jahre zuück an die Zeit erinnert, da das Wort von der Britannia, die über die Wogen des Meeres herrscht, noch seine volle Gültigkeit, hatte. Damals, als das Einkommen des britischen Bürgers bloß mit einer Steuer von Sixpence im Pfund belastet war, gegenüber dem jetzigen Satz von 7 Shillings Ninepence, stand immer Geld genug zur Verfügung, um an dem Grundsatz festhalten, zu können, daß die königliche Flotte mindestens so stark sein müsse, wie die zwei stärksten fremden Flotten zusammen. So besaß Großbritannien, um bloß zwei Schiffsklassen zu nennen, zu Ende des ersten Weltkriegs, trotz den erlittenen Verlusten, 72 Schachtschiffe, darunter 12 sogenannte Superdreadnoughts, und 34 schwere Kreuzer. Heute, 15 Jahre nach dem Ende des zweiten großen Ringens, an dem sich übrigens noch einige schwimmende Veteranen von 1914/18 rühmlich beteiligt hatten, befindet sich das letzte Schlachtschiff, das noch auf der Flottenliste geführt wurde, die erst lang nach 1945 fertiggestellte mächtige „Vanguard“, die nie einen Schuß „im Zorn“ abgefeuert hat, auf der Werft zur Verschrottung. Und nur noch vier moderne Kreuzer, die der 9500-Tonnen-„Tiger“-Klasse, repräsentieren in achtunggebietender Gestalt, 4k.wnsrige.gewajjtigeu.jgi.9tte, derenvßUfc heilen die weiße Kriegsflagge zu den fernsten Küsten trugen. Von Britannias traditioneller Seeherrschaft ist längst keine Rede mehr. Das Gesamtdeplacement ihrer Schiffe umfaßt bloß noch 750.000 Tonnen, gegenüber den 1,6 Millionen der sowjetischen und den 4 Millionen der amerikanischen Kriegsflotte. Begreiflich, daß der alte Mitkämpfer Admiral Jellicoes bei Jütländ sich heute unmutig fragt, ob denn ein solcher Verfall der Grand Fleet selbst durch Steuererhöhungen auf das Fünfzehhfache nicht aufzuhalten war.

Nun, die wohlfahrtsstaatlichen Ausgaben, so schwer sie auch den öffentlichen Haushalt belasten, sind nur zum geringsten Teil dafür verantwortlich, daß die Royal Navy ihren durch Jahrhunderte unbestrittenen ersten Platz mit einem „schlechten dritten“ vertauschen mußte. Den größten Einzelposten im Budget mit etwa 30 Prozent der Gesamtsumme, bildet noch immer das Kapitel Landesverteidigung; aber die unter diesem Titel verfügbaren Beträge — für das kommende Finanzjahr sind rund 1,6 Milliarden Pfund präliminiert —, haben ja nicht nur, wie früher, die Erfordernisse der Marine und der Armee, sondern auch der Luftwaffe zu decken, des jüngsten, aber sich von Jahr zu Jahr als kostspieliger erweisenden Zweiges der bewaffneten Macht. Wie schwer es ist, da die richtige Verteilung vorzunehmen und die Auffassungen und Ziele der drei Dienstzweige auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, zeigt sich deutlich im häufigen Wechsel an der Spitze des Verteidigungsministeriums, die seit 1950 durchschnittlich in jedein Jahr heu besetzt worden ist. An einem grundlegenden Konzept allerdings wurde mehr oder weniger konsequent festgehalten. Großbritanniens Sicherheit und der Schutz seiner vitalen überseeischen Interessen waren nur im Bund mit anderen Mächten zu gewährleisten, und der beste Beitrag, den es zur Stärkung der Defensivkraft dieser Bündnisse und zur Abschreckung eines potentiellen Angreifers leisten konnte, würde in einer machtvollen atomaren Rüstung bestehen, die überdies den Vorteil verringerter Präsenzstände bei den Streitkräften und -t wie man zunächst glaubte — auch finanzieller Einsparungen mit sich brächte. Dieser nach Ende des Koreakrieges angenommenen Linie, die mit der rapiden .Entwicklung der Raketentechnik noch schärfer akzentuiert wurde, entspricht das Bild, welches vor allem die königliche Marine und die britische Armee heute bieten.

Ein Geschwader modernster Flugzeugträger, zu deren Ausrüstung der nuklear bewaffnete Düsenbomber gehören wird, bildet den Kern der Flotte. Zum Schutz dieser schwimmenden Flugbasen, und gegebenenfalls der Geleitzüge, stehen Zerstörer und Fregatten in großer Zahl zur Verfügung. Die schwere Schiffsartillerie gehört der Vergangenheit an und auch die letzten Geschütze mittlerer Kaliber werden bald durch Raketenbatterien ersetzt sein. Nicht geringer sind die Veränderungen, die in der Armee vor sich gegangen sind, namentlich in ihrer zahlenmäßigen Stärke und in der Organisation. Umfaßten die drei Dienstzweige der britischen Streitkräfte vor sieben Jahren noch 875.000 Mann, so ging diese Zahl allmählich bis zum 1. April 1959 auf 570.000 zurück, wobei die Armee am stärksten in Mitleidenschaft gezogen wurde. Ihr Stand an diesem Datum betrug nur noch 303.000 Mann; jetzt, nach schrittweiser Auflassung der allgemeinen Wehrpflicht, sind es 265.000, und bis zum 1. April 1961, wo fast ausschließlich Freiwillige unter den Waffen stehen werden, soll der Abbau auf einen Stand von bloß 163.000 aktiv Dienender durchgeführt sein. Im Zuge dieser durchgreifenden Verminderung der Heeresstärke wurden nicht weniger als 61 Regimenter oder sonstige Truppenkörper, zum Teil Träger berühmter historischer Namen, aufgelöst oder mit anderen amalgamiert. Auch die Organisation der Heereskörper hat sich weitgehend verändert. An die Stelle der .Djyjsjoj. tritt die außerordentlich mobile, kleine Brigadegruppe, die, mit allen Waffen und'allen Land-; und Lufttransportmitteln reichlich ausgerüstet, zur selbständigen Lösung operativer Aufgaben befähigt ist. Ein besonderer Wert dieser Neuerung wird auch darin gesehen, daß eine solche Gruppe von einer Garnison der zu bildenden Zentralreserve von den britischen Inseln aus jederzeit binnen Tagen oder Stunden nach jedem beliebigen überseeischen Punkt gebracht werden kann.

Die Voraussetzung, von der die britische Wehrpolitik ausgeht, hat ernst zu nehmende Kritiker auf den Plan gerufen. Es wird vor allem darauf hingewiesen, daß die Umgestaltung der britischen Rüstung zu einseitig von dem Bestreben diktiert erscheint, für den Fall eines vom Gegner mit Atomwaffen geführten Großkrieges gewappnet zu sein, und zwei andere Eventualitäten zuwenig in Rechnung stellt. Wenn es sich darum handeln würde, dem Opfer einer ohne Einsatz nuklearer Kampfmittel verübten Aggression zu Hilfe zu kommen und damit vielleicht eine weltweite Ausdehnung des Brandes zu verhindern, so wäre Großbritannien bei der numerischen Schwäche seiner Armee kaum noch imstande, eine über engste Räume hinausreichende Unterstützung zu leisten. Die andere Eventualität, ein neuer Weltkrieg, in welchem, was viel Wahrscheinlichkeit für sich hat, aus beiderseitiger Furcht vor Vergeltungsschlägen die Verwendung der Atomwaffe überhaupt unterbliebe, würde, so meinen jene Kritiker, Großbritannien noch weniger vorbereitet finden. Man wirft dabei unter anderem die Frage auf, welche Erwägung die sowjetische Marineleitung veranlaßt haben mag, auf Flugzeugträger zu verzichten, dafür aber nicht weniger als 29 schnelle schwere Kreuzer, die für einen Kaperkrieg „konventioneller“ Art vorzüglich geeignet wären, einsatzbereit zu halten;, zusammen mit einer U-Boot-Flotte, die jetzt schon etwa 600 Einheiten, zu 75 Prozent Hochseefahrzeuge, umfaßt und bis Ende des Jahres die Zahl 1000 erreicht haben kann.

Inwieweit solche kritische Betrachtungen tatsächlich schwere Mängel des britischen, Rüstungskonzepts aufzeigen, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls bildet, auch so wie sie ist, Großbritanniens bewaffnete Macht ein wertvolles Instrument der Friedenssicherung, deren wichtigstes Fundament freilich auch weiterhin in der militärischen Kraft der Vereinigten Staaten bestehen wird.

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