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Die Mariazeller Muttergottes Jakob Kaschauers

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Der Bildhauer Jakob Kaschauer ist eine hypothetische Persönlidikcit. In den wenigen Dokumenten, die über seine Tätigkeit im zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts erhalten sind, wird er als Maler genannt und als Inhaber einer bedeutenden Kunstwerkstätte; man hat seinen Namen mit einem der bedeutendsten Wiener Altäre dieser Zeit in Zusammenhang gebracht, mit dem Albrechtsaltar in Klosterneuburg. Andererseits' hat sich eine bereits mehr oder weniger feste Konvention herausgebildet, nadi der wir' Kasdiauer als den Schöpfer von Plastiken ansehen, die zu den künstlerisch wertvollsten der Epodie gehören. Die Zuschreibungen gründen sich auf die urkundliche Nachricht über die 1443 erfolgte Bestellung des Freisinger Hochaltars in Kasdiaucrs Wiener Werkstatt. Von den erhaltenen Figuren dieses Altars ausgehend, haben deutsche und österreichische Forscher in ziemlich reiches plastisches Oeuvre des Meisters zusammengestellt, das in Hinkunft gewiß noch bereichert werden wird. Ob Kasdiauer wirklich der Autor dieser Plastiken war oder in erster Linie Maler, und nur als Unternehmer für die Plastiken reiner Altäre verantwortlich, werden erst neue Urkundenfunde klären können.

Inzwischen dürfte es aber nicht unwillkommen sein, ein vernachlässigtes Werk bekanntzumachen, das in den engsten Kreis des bedeutenden Plastikers gehört, mag es nun den Namen Kaschauer mit Recht tragen oder nur einem führenden Plastiker seiner Werkstätte angehört haben.

Das Werk, das in der Abbildung (Warte, Seite 1) vorgeführt wird, ist ein Torso. Es stand in einer Außennische der Brunnenkapelle von Mariazell und harit derzeit in der Werkstätte des Bundesdenkmalamtes der Restaurierung und Ergänzung. Der schlimmste Schaden, den die lebensgroße, holzgeschnitzte und farbig gefaßte Figur der stehenden Muttergottes erlitten hat, ist die Entfernung (durch Absägen) des untersten Viertels. Möglicherweise war die Figur unten angefault und wurde auf diese drastische Art kuriert; möglich audi, daß sie aus anderen Gründen abgesägt wurde, etwa um sie in der Nische unterzubringen. Eine Restaurierung de* vorigen Jahrhunderts machte den Versudi, das fehlende Stück zu ergänzen; die Ergänzung war jedoch so plump und verfälschend, daß sie entfernt werden mußte. Gegenwärtig wird eine bescheidenere Lösung geplant: Eine Ergänzung, die nur die allgemeinen Proportionen und die allgemeinste Formbewegung wiederherstellen soll, ohne sich auf bildnerische Details einzulassen. Für diese Lösung spricht, daß gerade die untersten Partien verwandter Figuren so überraschend und im Stil höchst persönlich gestaltet sind, daß eine überzeugende Neuschöpfung kaum gelingen kann. Es scheint daher ehrlicher und weiser, sich auf eine in allgemeinsten Linien gehaltene Rekonstruktion zu beschränken. Bei anderen kleineren Mängeln und bei der Restaurierung der alten Fassung dürfen befriedigende Resultate erhofft werden. Die Figur soll nach der Vollendung im Inneren der Wallfahrtskirche aufgestellt werden.

Die nächste stilistische und gegenständliche Parallele der Figur ist die 1443 datierte Muttergottes aus dem für die Werkstatt Kaschauers bezeugten Freisinger Hochaltar im Bayrisdien Nationalmuseum in München. In beiden Fällen ist das an Gegenbewegungen reiche Standmotiv der Figur aus dem Festhalten des in lebhaftester Bewegung zappelnden Kindes entwickelt. Das diagonal vor* dem Leib der Mutter gehaltene, bewegte Christuskind ist eine Reminiszenz aus der in den Vierzigerjahren bereits versunkenen Welt der schönen Madonnen und der böhmischen Gnadenbilder. Es ist aber audi die einzige Reminiszenz .in den älteren Stil„ der in Kaschauers Wirkungsbereich einige seiner schönsten Denkmäler geschaffen hatte. Im übrigen ist der Künstler entscheidend nach vorn gewendet. An Stelle der lieblidien Klarheit und Gesetzmäßigkeit melodischer Linienschwünge und organisch gekrümmter Flächen ist eine unruhig gefaltete, verquetsdite Masse überraschender Motive getreten, die der blockhaft empfundenen, mit aller Schwere und Daseinsnähe ausgestatteten Figur aufgelegt zu sein scheinen. Die Formgebung ist nicht vom Vegetabilischen oder Kristallinischen her entwickelt, sondern aus einem chaotischen Formtrieb. Der Effekt der gestauten, einander störenden, jäh sich entfaltenden Motive erinnert an erstarrte Lava. Was in beiden Figuren, der Freisinger und der Mariazeller, zustandekommt, ist keine logisch entwickelte, mit geometrischen Formen spielende „Draperie“, sondern ein überraschend zerbeultes, gebauschtes und verquollenes Gestaue von Falten. Formakzente werden angeschlagen, um sich in der wallenden Oberfläche des Blocks gleich wieder zu verlieren. Nirgends ergänzen sich die Formen zum Ornament.

Der Verlust gegenüber der paradiesischen Klarheit und Lieblichkeit des weichen Stils ist groß. Auf der anderen Seite stehen aber neue Werte, an die eine Generation früher nicht gedacht werden konnte. Ein tragischer Ernst, in den Frauenbildern zu milder Hoheit moduliert; eine als naturnah empfundene Schwere und Unmittelbarkeit der plastischen Form und eine. bewußte Annäherung an die ungeordnete Vielfalt der stofflich-wirklichen Erscheinung. Bei aller Willkür und Phantastik wird die Oberfläche nun übersetzbar in greifbare Stofflichkeit.

Das sind einige der Wesenszüge, die beide Madonnen miteinander gemein haben. Die Untersch.cde sollen aber nicht wegdisputiert werden. Ihre Aufzeigung mag dazu verhelfen, die Mariazeller Mutcergottes in die Entwicklung der Werkstatt einzureihen.

Ein bedeutender Unterschied besteht im physiognomischen, ja im seelischen. . Die Freisinger Maria blickt liebend besorgt, fast trauervoll auf ihr Kind, in gegenwärtiger, augenblicklicher Anteilnahme. Das Antlitz ist bis ins Feinste durchmodelliert. Demgegenüber ist das Gesicht der Manazelkrin unpersönlich, allgemein lieblich und .unbestimmt weich, obwohl es sich im einzelnen um die gleichen Formen handelt. Unbestimmt wie die Gesamtform ist der Ausdruck dier Augen — nicht auf ein Objekt fixiert, sondern ziel- und zeitlos ins Weite gehend. Der Ausdruck ist dem der schönen Madonnen noch nahe. Es wäre aber verfehlt, daraus den Schluß auf ein früheres Entstehungsdatum der Mariazeller Figur zu ziehen. Die geringere Ausgeprägtheit der Formen findet sich auch in der Draperie und hier spricht sie für eine spätere Entstehung. Bei der Freisinger Madonna spielen einige wenige konzentrische Motive — Reste der geordneten Formenwelt des weichen Stils — noch mit, wenn sie auch schon ihrer ursprünglichen Regelmäßigkeit entkleidet sind Im Gewand der Mariazeller Muttergottes jedoch ist alles in jene vage, gestaute, lavaartige Masse aufgelöst, in der es keine Reminiszenzen an den weichen Stil mehr gibt. Die Figur ist überdies noch blockhafter, weniger durch die Draperie differenziert als die Freisinger. Auch das Kind der Mariazeller Madonna ist „moderner“ in der Pose und zugleich weniger persönlich und einmalig. Seine Stellung findet sich annähernd bei der Olmützer Schutzmantelmaria, und fast identisch bei der Muttergottes in St. Severin in Passau; die nächste Stufe ist dann die der Dangols-heimer Madonna.

Alle diese Züge weisen darauf hin, daß die Mariazeller Figur später entstanden ist als die Freisinger, wohl schon um die Mitte des 15. Jahrhunderts, und daß sie nicht als ganz eigenhändiges Werk Kaschauers gelten kann. r3er Abstand der Qualität ist gerade in den Gesichtern merkbar. Derselbe Abstand zeigt sich in der Ausführung der Haare, die zwar dem gleichen Schema gehorcht, bei der Mariazelle' Madonna aber weniger subtil und geistreich ist. Es ist übrigens wahrscheinlich, daß der Geselle, der das Werk in der Werkstatt des H.iupt-meisters schnitzte — ein paar Jahre, vielleicht ein Jahrzehnt nach dem großen Freisinger Auftrag —, ein älterer Mann war, der sich, entsprechend der vorgeschritteneren stilistischen Entwicklung der fünfziger Jahre wohl vom Motivenschatz, nicht aber von der Geistigkeit des weichen Stils freimachen konnte. Die Figur wird also um 1 4 5 0 anzusetzen und einem Werk stattgehilfen Kaschauers zuzuschreiben sein. Nichtsdestoweniger ist die Figur eine bedeutende Bereicherung des Oeuvres d:r Werkstatt des bedeutendsten Wiener Plaitikers dieser Epoche.

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