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Auf allen Gebieten zu Hause

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BILDNIS EINES AUFRECHT STEHENDEN MENSCHEN. Von Salvador de Madariaga. Übersetzung aus dem Spanischen von Margit ta Dotzel de Herväs und Salvador Herväs Leon. Scherz-Verlag, Bern-München-Wien, 1966. Leinen. 173 Seiten.

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BILDNIS EINES AUFRECHT STEHENDEN MENSCHEN. Von Salvador de Madariaga. Übersetzung aus dem Spanischen von Margit ta Dotzel de Herväs und Salvador Herväs Leon. Scherz-Verlag, Bern-München-Wien, 1966. Leinen. 173 Seiten.

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Heißt es unlautere Propaganda machen, wenn aus eigener Lesererfahrung mitgeteilt wird, daß man dieses Buch nicht aus der Hand gelegt hat, bevor man nicht die letzte Seite umgeschlagen? Dabei war es anfangs nur, um die allzu fixe — wie es schien — und fertige Baum-Tier-Mensch-Vergleichung, mit der das Buch beginnt, schon auf der dritten Seite vermutlich im Platten enden zu Sehen und dann mit dem Lesen aufzuhören. Aber dann kommt es anders, ganz anders.

Die Kulturphilosophen wachsen jetzt wie die Schwämme. Viele sind berufen, wenige auserwählt. Es ist ein schwieriges Metier. Eine Idee allein tut es nicht. Talent genügt nicht. Der Kulturphilosoph ist zu Genie verpflichtet. Aber nicht zu Genie in Technik, Geschichte, Wissenschaft, sondern in Kulturphilosophie. Die Menschheit verfügt Gott sei Dank über fast ebenso viele verschiedene Begabungen wie Menschen. Darunter befinden sich auch ein paar echte Kulturphilosophen, die nicht deshalb zur Feder greifen, weil sie aus journalistischem Drang ihrem SpeZialwissen ein Ventil verschaffen wollen, sondern weil sie Kulturphilosophen sind und etwas au sagen haben, etwas ganz Bestimmtes, und in einer Weise, die es notwendig macht, daß gerade sie es sagen.

Madariaga ist als einer der ganz echten Kulturphilosophen auf allen Gebieten zu Hause. Aber das sind viele. Für einen achtzigjährigen Weisen, der vor Gott — wenn Goethe recht hat — mehr gelten muß, als andere, die nicht weise wurden, ist damit wenig gesagt. Wenn man in diesem Alter noch so mit dem Wissen umspringen kann, daß es sich zwanglos und überzeugend der Idee fügt, die man als Erntegut in der Scheuer findet, dann ist alt und weise sein eben doch kein leerer Wahn, wie Knut Hamsun sich pessimistisch selbst verhöhnt hat. Um weiche Idee handelt es sich in diesem Buch? Um die folgende: Es gibt den aufrecht stehenden Menschen, aber es gibt nicht nur ihn. Es gibt auch den Menschen mit horizontaler Haltung. Das ist natürlich geistig gemeint. Der Gelehrte zum Beispiel, der sich nur für das Wie der Dinge interessiert und nicht für das Warum, der daher, wie die Kuh auf der Weide, sagen wir in einer Bibliothek — die Bücherweide — oder in einem Labor — Weide der Tatsachen — sich an Einzelheiten gut und genüge tut, dieser Wie-Gelehrte folgt damit horizontalen Impulsen, die Tradition fortführend, während der „vertikale“ Gelehrte es ist (der Warum-Gelehrte), der die Wissenschaft wiklich und sprunghaft vorwärtsbringt. Das ist natürlich nicht alles, aber man darf darin gewiß des Autors Lebensansicht sehen, die weiterzugeben ihm Bedürfnis war. Er selbst erweist sich in dem kleinen, aber ungeheuer reichen, fast dichterischen Werk, als ein „Vertikaler“ vom Scheitel bis zur Sohle.

Daß er seinen Landsmann Ortega als ein mit wenig Genie begabtes Talent bezeichnet, sei ihm verziehen. Es ist zu vermuten, daß er da übersehen hat, wie bei Ortega ein Gipfel den andern verdeckt. Der große Philosoph ist nämlich, genau wie auch sein anderer Landsmann Picasso, vor allem ein Genie der Form, wodurch dann eben die Genialität im „Vertikalen“ schwächer ausgeprägt erscheint. Vielleicht läßt sich seine Ansicht verstehen, wenn man bedenkt, daß auch Ortega sich als Kulturphilosoph versucht hat — Madariaga nennt selbst seinen „Aufstand der Massen“ meisterlich —, und so weise wird man wohl nie, daß man — um noch einmal Goethe zu bemühen — liebt, wo es „gegen große Vorzüge kein anderes Rettungsmittel gibt“.

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