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Charaktere im Klassenzimmer

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Ich bin mir der Schwierigkeit meiner Aufgabe bewußt: Ich soll junge Menschen darstellen. So wie sie sind; ihre Ansichten, ihre menschliche Reife und — Unreife. Das Meßgerät beeinflußt immer die Meßgröße; vielleicht ist diese Tatsache von der Physik her bekannt. Gilt dies, angewandt auf die Psychologie, nicht auch für den Menschen, nur hier mit noch größerer Kompliziertheit? Und, wie weit ist doch der Weg, bis man dahin gelangt, alle seine Mitmenschen als Brüder zu betrachten, die uns zur Aufgabe gestellt wurden? Speziell dann, wenn man sich von ihnen mehr abgestoßen als angezogen fühlt. Wo man die Größe der Worte, Ich aber sage euch, liebet vielmehr eure Feinde...“, erst allmählich zu ahnen beginnt.

Nun, gut, ich will also beginnen: Typ Nr. 1. Er ist nicht ganz so modern. Das heißt, es fehlt ihm dazu etwas: der Liberalismus. Verstehen Sie mich, bitte. Wir haben einige in unserer Klasse, die sind aus der sogenannten Bourgeoisie, und gerade die sind liberal gefärbt; nur er nicht. Er ist eigentlich konservativ, und das trägt ihm das Lächeln der anderen ein. Vielleicht ist es auch die Mitgliedschaft bei der Studentenverbindung. Ich bin bei keiner derartigen Vereinigung, aber ich sehe deshalb nicht auf ihn herab. Für ihn ist sie vielleicht ein Ausgleich. Nur finde ich, daß er diesen Ausgleich zu intensiv betreibt. Und im allgemeinen hält er von gesellschaftlichen Veranstaltungen — die seiner Meinung nach die Menschen einander näherbringen — mehr als vom Studium. Ueber- dies ist er der Ansicht, daß „Verbindungen“ das halbe Leben machen; diese Meinung kann er auch konsequent in die Tat umsetzen.

Wir sprachen einmal über das Leben im allgemeinen, später auch über das Ende. „Also ich könnte jeden Moment abtreten; mir hat das Leben schon so viele Annehmlichkeiten bereitet, daß ich beruhigt auf die kommenden verzichten kann." Ach nein, dachte ich bei mir, wie großzügig. Mir hat zwar das Leben diese sogenannten Annehmlichkeiten nicht bereitet, aber ich könnte ebenso abtreten. Vielleicht . nicht so beruhigt. Dann wandte sich das Gespräch, und wir behandelten religiöse Themen ... Ich brach resigniert das Gespräch ab. Seine bürgerlichen Ansichten, die zwar christlich gefärbt waren, aber nicht durchtränkt, stießen mich ab. Meinen Hinweis auf die Stellung Christi als Arbeitersohn beantwortete er mit einem Lachen: ich hätte komische Ansichten!

Herrgott, Du hast mir diesen Menschen zum Bruder gegeben. Aber mir fällt es reichlich schwer, obwohl er des gleichen Glaubens ist wie ich. Ich könnte aber genau so Kommunist sein, und zwar militanter, und dann müßte ich ihn hassen. Gerade deshalb, weil er die Anlage besitzt, jene satte Kapitalistenruhe zu erlangen, die blind macht für die anderen. Und das deshalb, weil er nichts von seiner Verantwortung weiß; weil er „ein guter Mensch" ist, sonst nichts.

T y p N r. 2 : Er ist fast ein Konträrstück zu dem vorhin beschriebenen. Und trotzdem fehlt ihm zur vollständigen Verschiedenheit etwas. Ich gehe nicht fehl, wenn ich meine, daß das einzig Gemeinsame die Bürgerlichkeit darstellt. Während aber beim anderen noch das Bewußtsein von ethischen Werten vorhanden war, fehlt es bei ihm gänzlich. Er ist reiner „Diesseitsmensch". Obwohl materiell ziemlich gut situiert, huldigt er einer anderen Richtung. Schade, ich habe da vor den Wahlen beispielsweise manchmal Radio gehört. Dabei habe ich den Eindruck gewonnen, man müßte nach Ansicht mancher Leute als Katholik unbedingt Sozialist sein...

Seine Ansicht: Es ist gänzlich undiskutabel, welcher Richtung man angehört. Schließlich sind doch alle Menschen Egoisten, und man hat sich, um zu profitieren, nur nach dem Wind zu richten, der momentan bläst. Da er nicht gefragt wurde, unter welcher Windrichtung er gerne zur Welt kommen wolle, kümmere er sich auch weiterhin nicht darum. Jedenfalls besteht die Tatsache, daß er Sozialist sei und als solcher Aussicht auf Karriere besitze. Eine Welt-, anschauung als solche halte er für ein unbrauchbares Anhängsel. Man könnte sich ja fallweise eine bilden, aber sie ebenso wieder ad acta legen, wenn sie nichts mehr taugt. Ihn deshalb als Pragmatisten zu bezeichnen, finde ich nicht angebracht. Er hat sich ganz einfach die Lebensform als Schablone zur Bildung seiner Lebensanschauung gewählt. - Und diese war bei ihm von einer ziemlich starken Triebtendenz beeinflußt. Er bekennt sich auch dazu. Der geborene Zyniker? Nein: dazu fehlt ihm der Geist. Das merkt man oft an seinen Jähzornausbrüchen; also Primitivreaktionen. Und nachdem Dummheit und Stolz aus einem Holz wachsen, fehlt ihm keines von beiden. Ich frage mich, ob es irgend jemandem wohl möglich sein wird, ihn Kameradschaft zu lehren?

Seine Seele suchen heißt ungefähr soviel, wie Wasser in der Wüste suchen. Er scheint gar keine zu haben. Und als Materialist glaubt er ja selbst nicht daran. Das Fazit: Der Menschentypus, wie er als Materialist westlicher Prägung bekannt ist. Insofern ist er natürlich als mittelmäßig zu bezeichnen, da er viele Gesinnungsgenossen besitzt.

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