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AUS DEM ALTEN RUSSLAND

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Wie lange man auch auf Erden leben mag, niemals wird man aufhörtn1,' übSK Rüßland zu staunetL DiesesiiStaunen begann in- mölh TOndheit tttid erfüllt Weh’noch immet.“ Es gibt kein Land atįfjdįįf’Welf,1dąs überraschender Davon konnte ich mich in Kopan am zweiten Tag nach meiner Rückkehr überzeugen.

Während ich Mutter und Galja von dem revolutionären Moskau erzählte, blickte ich aus dem Fenster und sah, wie ein gebeugter, altersschwacher Mönch in staubiger Kutte und abgegriffenem spitzem Käppchen aus dem Wald langsam auf das Gehöft zukam. Er trat ein, bekreuzigte sich vor der leeren Ecke, verneigte sich tief vor uns und bat Mutter, ihm für die Klosterbrüder getrocknete Pilze gegen Salz einzutauschen. Mir war zumute, als sei ein Stück Mittelalter unter uns getreten.

Salz hatte Mutter. Davon schüttete sie dem Mönch ein Viertelsäckchen ab, nahm die Pilze jedoch nicht — denn es gab in dieser waldigen Gegend mehr Pilze, als wir brauchen konnten.

Mutter bewirtete den alten Mönch mit Tee. Er setzte sich, ohne die Kapuze abzulegen, trank Tee und biß kleine Stücke vom Fastenzucker ab, und dabei rannen über seine kirchenwachsgelben Wangen vereinzelte Tränen. Er trocknete sie sorgfältig mit dem Kuttenärmel ab und sagte: „Der Herr hat mich für würdig befunden, daß ich noch einmal vor meinem Absterben Tee mit Zucker trinken darf. Der Herr hat sich wahrlich meiner erbarmt; er übt Nachsicht mit meinem nichtswürdigen Leben."

Mutter ging ins Nebenzimmer, um etwas zu holen. Ich folgte ihr und fragte, wo dieser Mönch herkomme. Mutter erzählte, daß zehn Werst von Kopan, im entlegensten Winke! des Waldes, am Ufer des Flusses seit uralten Zeiten eine kleine Einsiedelei der Altgläubigen liege. Jetzt, nach der Revolution, seien alle leidlich gesunden Mönche auseinandergelaufen, und in der Einsiedelei lebten nur noch ein paar kranke, schwache Greise.

„Du solltest einmal die Einsiedelei aufsuchen“, riet Mutter. „Sprich mit den Mönchen. Das wird vielleicht interessant für dich sein.“

Ein paar Tage später besuchte ich sie. Der Wald war dunkel: er lag voller Windbruch. Nicht auf einer Lichtung, sondern mitten im Wald, zwischen den Bäumen, stieß ich auf einen hohen Zaun aus vor Alter schwarzen Pfählen. Solche Pfahlzäune hatte ich auf Bildern von Roerich und Nesterow gesehen, die alte Klöster darstellen.

Ich ging den Zaun entlang bis zum Tor. Es war zugenagelt. Lange mußte ich an das Pförtchen klopfen, ehe mir der gleiche Mönch öffnete, der um das Salz gebeten hatte

In dem kleinen, grasbewachsenen Hof erblickte ich ein schiefes, aus Kiefernstämttien zusammengezimmertes Kirchlein und fühlte mich im selben Augenblick in ein vergangenes Jahrhundert zurückversetzt.

Aus der Kirche hörte ich den Gesang greisenhafter Stimmen. Hin und wieder erklang vom Glockenturm dünnes Geläut.

„Wir wissen nicht recht“, sagte der Mönch, „sollen wir läuten oder nicht. Wir sind vorsichtig. Es könnte doch die heutigen obrigkeitlichen Gewalten kränken. Deshalb läuten wir nur ganz leise. Sitzt eine Krähe auf dem Glockenturm — fliegt sie nicht einmal weg. Treten Sie bitte in das Gotteshaus."

Wir betraten die Kirche. Nur drei, vier Kerzen brannten. Die alten Männer in den schwarzen Kutten mit aufgenähten weißenKreuzen und Schädeln regten sich nicht. Schmale Heiligengesich; tefc auf bräunlich vergoldetem. Kreis Schimmerten-'aus dem Halbdunkel. Es roclrbittdr hach verbrannten Wacholderbeeren,' wel- TShe die Mönche statt Weihrauch benü'Kitenr’.

Vergangenes tauchte auf und vermischte sich mit der Gegenwart: die uralte Klostersiedlung, der trostlose Gesang, das dumpfe Brausen der Kiefern draußen vor der Kirche, die Schädel auf den Kutten der Mönche, Moskau, das Kreuz auf Loljas Grab, die verlausten Soldaten in den Schützengräben, die Synagoge in Kobrin, das Licht des Taganroger Leuchtturms, die Versammlungen, die Revolution, die Marseillaise, Kerenskijs „Friede den Hütten — Krieg den Palästen“. Schillernd, traumhaft unwahrscheinlich erschien mir mein bisheriges Leben. Längst waren mir plötzliche Veränderungen nichts Ungewohntes mehr.

Wie sollte man in all dem einen Sinn entdecken? Wie es begreifen? Wie in diesem Chaos jene Klarheit finden, ohne die man nichts Echtes und Wertvolles schaffen kann? Und wie sollte man sich gar diesen Zustand erklären, der den gleichen Menschen zum Anhänger der Revolution und ihrer großen fortschrittlichen Ideen, zum Gesprächspartner Heines und selbst zum Zeitgenossen Altrußlands macht, das hier in einer Einsiedelei mit zitternden, brüchigen Stimmen davon sang, daß der Mensch die ewige Seligkeit erworben habe, „jetzt und immerdar, und von Ewigkeit zu Ewigkeit“. Und warum muß ich immer, wenn ich diese Worte höre, an jene Verse denken: „Schimmernde Perlen reiht meine Trauer auf, und es fallen die Perlen in den geschmiedeten Schrein." In ihnen und dem Gesang der Mönche liegt für mein Gefühl etwas Gemeinsames.

Ich verließ die Einsiedelei und konnte meine Gedanken lange nicht ordnen.

Darnach besuchte ich jedesmal, wenn ich an den Ush zum Angeln ging, die Einsiedelei, wo die Mönche mich mit altem Honig und kaltem Wasser bewirteten

Zeitungen gab es nicht, man mußte das lahme Pferd nehmen und sie aus Tschernobyl holen.

Ich kam nur einmal dazu, dorthin zu reiten, und brachte die Nachricht von dem Kornolowputsch mit, und daß die Deutschen zum Angriff übergegangen seien und Riga eingenommen hätten. Ein zweites Mal ließ Mutter mich nicht nach Tschernobyl. In den Wäldern war eine Bande aufgetaucht — man wußte nicht recht, ob es geflohene Kriegsgefangene oder aus dem Gefängnis entlassene Sträflinge waren. Niemand hatte sie gesehen, aber alle waren sehr aufgeregt.

Die Zeit verrann. Von der Bande hörte man schon längst nichts mehr, und alle hatten sich wieder beruhigt. Im Spätherbst endlich fuhr ich nach Kiew und von da nach Moskau. Mutter nahm mir das Versprechen ab, daß ich im nächsten Frühjahr wieder kommen würde.

Bei meiner Abreise ließ ich Polesje in trockenem gelbem Laub und weichen Nebeln zurück.

Eine Woche später überfiel eine unbekannte Bande die Einsiedelei, durchwühlte auf der Suche nach Silber die Zellen, erschoß die Mönche und legte Feuer an die Kirche. Doch die Kirche war aus steinharten Bohlen gezimmert und kohlte an, verbrannte aber nicht.

Aus dem vor kurzem In der Nymphenburger Verlagshandlung erschienenen dritten Teil der Erinnerungen von Konstantin Paustowskij, der in der Reihe ,,Bücher der Neunzehn“ vorgelegt wird

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