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Aus der Tiefe der Seele

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Das Wiener Vorstadttheater begreift Theater als Therapeutikum für Randgruppen und mehrfach behinderte Menschen. Es schafft damit eine eigene Kunstform, die an die Tiefen der Existenz rührt.

„Ich bin ja kein Trottel!” Mit solchen Aussagen muß Regisseur Manfred Michalke (43), der mit mehrfach behinderten Menschen arbeitet, schon rechnen, wenn er es wagt, eine Regieanweisung zu wiederholen. Alles, was einem mehrfach behinderten Menschen gesagt wird, gräbt sich in sein Bewußtsein fest ein. Wann er darauf reagier hängt von seiner Tagesverfassung ab. Ein Begisseur muß oft wochenlang warten, bis er die Auswirkungen einer Anweisung auch beim Spiel sieht. Nur eines ist sicher: Vergessen wird sie nicht.

Die Arbeit mit behinderten Menschen stellt an Projektleiter, Techniker und alle, die daran beteiligt sind, enorme Anforderungen. Sie als Künstler ernstnehmen bedeutet, sich in ihre Art des Denkens zu versetzen. „Ein behinderter Darsteller lebt im Zeitraum des Spielens ausschließlich in seiner Rolle. Er hat kein Privatleben und spricht auf optische und akustische Signale an.” Für Regisseur Michalke bedeutet das exakteste, präziseste Vorbereitung. Die Stellung einer Requisite, die Helligkeit eines Scheinwerfers, der Einsatz bei einem bestimmten Klang: das sind die Mittel, mit denen hier eine Theateraufführung dirigiert wird. „Die Darsteller wissen nicht, was eine Oboe ist, doch sie hören sie und reagieren in der Genauigkeit eines halben Taktes.”

Wo Theater auf Sprache und Ausdrucksformen des Intellekts verzichten muß, beginnen andere Sinne wach zu werden. Die Intensität, mit der behinderte Menschen die kleinsten, aber umso bedeutenderen Gesten ausführen, wird normalerweise nur von den allergrößten Stars erreicht. Manchmal macht das fast angst. Die erste große Aufführung, die Manfred Michalke mit seinem Ensemble auf die Beine gestellt hat, war die Passionsgeschichte. Zu den Klängen von Mozarts Requiem, in Kostümen des Wiener Burgtheaters erzielte die Premiere in Retz im Juni 1994 Erfolge jenseits des Mitleidsbonus. Die behinderten Darsteller der Caritas-Heime Retz, Unternalb und Lanzendorf agierten genauso professionell wie es die musikalische Vorgabe erforderte.

Die monatelange Feinstarbeit an Gestik und Mimik hat sich ausgezahlt. Peter Turrini, der in der Nähe wohnt, zeigte sich beeindruckt. Er konnte beobachten, daß das Ansehen der Behinderten nach der Aufführung in der Einwohnerschaft von Betz eindeutig gestiegen war. Der Erfolg war dadurch zu erzielen, daß jeder der 43 Darsteller seine Rolle so ernst nahm. Keine gespielte Leidensgeschichte war hier zu sehen, sondern eine gelebte, in die jeder Schauspieler seine Leiderfahrung einbrachte.

Die Verteilung der Rollen war relativ einfach. „Entweder er will eine Rolle oder er will nicht.” Mehrfach behinderte Menschen haben ein ausgesprochen feines Sensorium für die eigenen Grenzen. Haben sie sich etwas in den Kopf gesetzt, sind sie davon nicht mehr abzubringen. Kompromisse gibt es keine. Genauso kompromißlos ist auch die Darstellung. „Ein böser Grundausdruck bleibt böse und wird nicht freundlich.”

„Ein Rehinderter kann seine Rolle nicht verbalisieren, doch er begreift ihre seelische Grundlage.” Der Darsteller des Christus war beim Palmzug so ungeniert König, „daß ein Normaler sich geschämt hätte, das darzustellen.” Die Gruppe arbeitet konkurrenzlos, aber interessiert und kritisch zusammen. Anekdoten zu den Proben gibt es unzählige. Michalke lächelt. „Kritik muß immer sofort und offen erfolgen.” Intrigen, Konkurrenz oder falsche Freundlichkeit gibt es unter mehrfach Behinderten nicht. Dafür gesunde Direktheit und den Willen zur absoluten Leistung. Sie zu erreichen, dauert unvorhersehbar lange, aber wenn ein Stück einmal sitzt, dann sitzt es. „Wir könnten die Passion rasch in der gleichen Qualität wiederaufführen.” Die Liebe zu behinderten Menschen ist Grundvoraussetzung für Michalkes Arbeit. Fehler dürfen keine 'passieren, und er muß dafür sorgen, daß seine Darsteller nicht enttäuscht nach vollbrachtem Werk unbetreut ins schwarze Loch ihres Alltags zurückfallen.

Dabei kommt es zwischen Spitzendarstellern und Betreuern des normalen Behindertenalltags durchaus zu Konflikten. „Ich geh jetzt proben und tu nicht blöde Filzstifte ordnen”, so einer des Spitzenquartetts (Christus Manfred Hofmacher, Nikodemus Gerhard Hutflesz, Petrus Gerhard Groher, Pilatus Christian Ankowits) stolz. Theaterspielen ist Arbeit, nicht Entspannung oder Freude. Der Applaus des Publikums ist Belohnung einer Leistung. Kommen einmal weniger Leute als gewohnt, suchen die Darsteller die Schuld bei sich und fragen, was sie falsch gemacht hätten.

Michalke ist sich der Verantwortung, die ein Begisseur bei dieser

Form von Arbeit trägt, voll bewußt. Seine Frau Margaretha arbeitete in der Behindertenbetreuung. Doch der sichtbare Effekt, den die langen Probenarbeiten im Charakter und Selbstwertgefühl der „kranken” Menschen haben, ist den Aufwand wert.

Es gibt Darsteller, die stumm und kontaktscheu zur Gruppe stießen und sich am Ende der Arbeit zur Kommunikation öffnen konnten. Das kennt man auch in der Sonderschule Clara Fey, wo behinderte Kinder Theater spielen. Wenn dort zu Weihnachten ein Hirte, der in der Klasse jahrelang geschwiegen hat, vor begeistertem Publikum, ohne zu stottern, den Satz: „Ich bringe Honig für das Kind” hervorbringt, ist das ein kleines Wunder. Es braucht Geld, Initiative und Menschen, diese Wunder wahr zu machen. Wenn daraus noch Kunst auf höchster Ebene wird, umso besser.

Manfred Michalke hat auch diesen Sommer wieder mit seinen Stars geprobt. Ein neues Projekt, „Warten auf Godot”, ist im AVerden, man wagt dabei den Schritt in ein neues Medium. Die Kurzfassung des Stücks wird auf Videokassette zu sehen sein, Musik spielt eine wesentliche Rolle, die Darsteller sind bekannt, und das Resultat wird nächsten März offiziell präsentiert. Bis dahin muß man von der Geduld der mehrfach Behinderten lernen und einfach warten: auf Godot.

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