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Bedrängte Künstlerschaft

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Frühjahr 1945. Unter den letzten Opfern des Gewaltrausches befindet sich der populäre Theater- und Filmdarsteller Paul Hörbiger in Haft. Die Machthaber zögern. Der Mahn ist beliebt im ganzen Land und von Film und Bühne her der halben. Welt bekannt. Seine Justifizierung würde unwillkommene Erregungen hervorrufen und könnte den schon heimlich züngelnden Widerstand der Bevölkerung zur Flamme entfachen.

In letzter Stunde gelingt Paul Hörbiger die Befreiung. Seine erste Handlung ist ein Opfer für andere: er plündert seinen Schrank und tarnt ein paar umherirrende Polizisten mit den rettenden Zivilkleidern. Und nun steht er da, bekleidet mit den letzten Resten seiner großen Zivil- und Kostümgarderobe, kurzer Hose und einem fadenscheinigen Röck —, eine Raimund-Gestalt in aller ergreifenden Echtheit und Natürlichkeit, wie er sie hunderte Male am Abend gespielt hat. Aber das Leben geht weiter. Mit einem rasch zusammengetrommelten Häuflein des einstigen Burgtheaterensembles springt er förmlich wieder ins Leben, sein Leben: auf die Bühne; Als Honorar erbittet er sich — einen Laib Brot pro Spielabend. Und das Leben geht weiter. Es ist jetzt Frieden und Freiheit, aber der Wiederaufbau einer so schwer getroffenen persönlichen Existenz ist immer noch schwer. Mit zäher Verbissenheit und einem unermüdlichen Spielfleiß arbeitet sich Paul Hörbiger wieder hinauf — Gastspiele hier, Gastspiele dort —, dazwischen aber vergißt er nicht auf die Not der anderen und organisiert die ersten Kindertransporte in die Schweiz und nach Schweden. Es ist ein Leben voll Tätigkeit und Erfolg. Aber in dieses Leben fallen plötzlich Schatten...

Herbst 1949. In die unbestimmten Gerüchte von laufenden Abwanderungen heimischer Künstler ins Ausland, in die bestimmteren Nachrichten von der bevorstehenden Pachtübernahme des über Nacht stillgelegten Wiener Raimundtheaters durch eine ausländische Interessentengruppe schlägt wie eine Bombe die bittere öffentliche Ankündigung Paul Hörbigers, daß er nach endlosen leidigen Auseinandersetzungen mit dem österreichischen Fiskus schließlich des Kampfes müde geworden sei und dem Lande, als dessen Kind er sich zeitlebens gefühlt habe, heute als Mann mit grauen Haaren den Rücken kehren müsse.

Was ist geschehen? Welche Erlebnisse liegen zwischen jenem Schicksalsfrühling 1945 mit seinem Aufschwung zu neuem Leben und Schaffen — und diesem schwerwiegenden Entschluß des Künstlers, das Land zu verlassen, in dem seine tiefste Art, sein künstlerischer Aufstieg und sein ganzer Erfolg begründet ist?

Nach der Darstellung, die Paul Hörbiger selbst kürzlich der Öffentlichkeit gab, lassen sich aus der Fülle der Demütigungen, die der Künstler in den letzten Jahren erfahren hat, folgende drei Hauptpunkte herauslösen: erstens habe die zuständige Steueramtssbelle im Jahre 1948 ohne Angabe von Gründen eine frühere Vereinbarung mit Hörbiger über einen besonderen Steuerfreibetrag für die Jahre 1945 bis 47 widerrufen und dem Künstler plötzlich eine Vorschreibung von 112.161 (nunmehr „guter" Schillinge) diktiert. Zweitens habe Paul Hörbiger für den bescheidenen Jahresrest 1948 (er gab bis Oktober ein Gastspiel im Ausland) die Kleinigkeit von 25.668 Schilling Einkommensteuer vorgeschrieben erhalten. Drittens sei ein Ansuchen an die amtliche österreichische „Autokommission" im Handelsministerium, sich mit den ehrlich erspielten englischen Pfund ein ausländisches Auto kaufen zu dürfen, mit einer Handbewegung abgetan worden, begleitet von der gemütvollen Äußerung des Kommissionsvorsitzenden: „D e r Hörbiger soll zu Fuß gehe n.“ Den ungeheuerlichen Vorschlag derselben Dienststelle, durch ein Hintertürl zu schlüpfen, das heißt: statt einem zwei Autos zu kaufen, eines für sich (Hörbiger), ein zweites aber angeblich für — „Regierungsstellen", die ihm dann den Wagen mit österreichischen Schillingen abkaufen würden, habe er mit Entrüstung von sich gewiesen.

So weit die Anschuldigungen Paul Hörbigers, die bisher von den betreffenden Amtsstellen unwidersprochen geblieben sind.

Mag sein, daß aus amtlichen Erwiderungen, nach denen die Öffentlichkeit dringend verlangt, noch diese oder jene formale „Rechtfertigung“, vielleicht auch noch geringfügige Korrekturen zu der obigen Darstellung laut werden. Den Kern der Sache treffen sie nicht. Denn hier geht es um nicht mehr und nicht weniger als um jene grundsätzliche Geringschätzung, ja Verachtung der geistig-schöpferischen Leistung, wie sie sich seit einiger Zeit in Teilen der Gesetzgebung und Verwaltung unseres Staates, allen anderslautenden Beteuerungen bei besonders alarmierenden kulturellen Einstürzen und anderen festlichen Anlässen zum Trotz, einzu bürgern droht.

Der Fall Hörbiger ist nur ein akuter Anfall des Fiebers. Diese Verständnislosigkeit gegenüber dem künstlerisch-wissenschaftlichen Arbeitseffekt, diese mechanische Einschätzung, diese völlige Gleichsetzung der Jahresarbeit eines Gelehrten, der epochalen Entdeckung eines Erfinders oder der einmaligen Leistung eines Hamlet-Darstellers mit dem sicherlich notwendigen und durchaus achtbaren Handreichungen eines Hilfsarbeiters, keimt schon in der nivellierenden Personalsteuergesetzgebung und setzt sich von da ab bis zu den entferntesten Exeku- toren schwerfaßlicher Gesetze, Verordnungen und Weisungen fort, mit dem Quadrate der Entfernung vom Ursprung noch bedeutend an Nachdruck und „Autorität“ zunehmend. Die natürlichen guten Beziehungen, die einstmals gerade in Österreich, sichtbar für alle Welt, den Staat, seine Hofräte, seine Sekretäre und Türsteher, mit seinen Künstlern und Gelehrten verbunden haben, drohen heute in einem sozialen Ressentiment zu ersticken, das in seinen weiteren Folgen die Grundfesten des Gemeinschaftslebens erschüttern würde.

Kleine und kleinste Vollstrecker des Gesetzes spannen nicht selten mit einer Art grausamer Lust ihre Opfer auf den Buchstaben des Gesetzes, den letzten harten Sinn dieses Gesetzes noch mit persönlicher Ranküne übertrumpfend: „Der Hörbiger soll zu Fuß gehen!" — zugleich aber auch des weitaus älteren und tiefer reichenden sozialen Klassenkampfes.

Wenn diese „Fußgänger" außer Landes gehen? Wenn der Boden wankt, auf dem, in Österreich mehr als anderswo, eine jede fruchtbare wirksame menschliche Gemeinschaft ruht — was dann?

Der Vorsitzende eines Wiener Künstlerberufsverbandes hat seine kritischen Äußerungen zu dem Fall Hörbiger mit den Worten geschlossen: „Wenn wir in Österreich aufhören, ein Kulturstaat zu sein — was sind wir dann noch?“

Ein gescheites Wort, ein gutes Wort. Es läßt zudem die Hoffnung offen, daß lange noch nicht alles verloren ist und alle reichen schöpferischen Kräfte, die dieses Land noch heute unbestritten birgt, sich mit allen Mitteln gegen eine weitere Entwicklung stemmen werden, die es zugleich mit der Kultur seinem tiefinnersten Wesen ent fremden würde. Dazu bedarf es zwar noch vieler Einsichten und einer langwierigen Liquidierung der wirtschaftlichen Nachhuten des großen Krieges, aber vielleicht ist gerade der Fall Hörbiger, zu dem selbst gleichfalls nicht das letzte Wort gesprochen sein dürfte, ein Wegweiser — nicht zur Flucht der „Geistigen“ ins Ausland, sondern zu ihrer letzten sinnvollen Beheimatung in Österreich.

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