Blickwechsel
DISKURS„Hört einander zu!“: Immer unterwegs
Brigitte Schwens-Harrant über die Schriftstellerin Elif Shafak und ihren engagierten Essay „Hört einander zu!“
Brigitte Schwens-Harrant über die Schriftstellerin Elif Shafak und ihren engagierten Essay „Hört einander zu!“
Sie wurde in Frankreich als Tochter türkischer Eltern geboren, wuchs in der Türkei auf, verbrachte viel Zeit in ihrer Jugend in Spanien und den USA, und lebt heute in Großbritannien. „Der Ort aber, an dem ich als Kind wie als Erwachsene die meiste Zeit verbracht habe, liegt noch einmal woanders – es ist das Land der Geschichten. In diesem Zauberreich, in dem der Himmel seine Farbe wechselt wie ein Stimmungsring und alles, ob Kieselstein oder Berg, eine eigene Stimme hat, in diesem vielgestaltigen, riesengroßen Gebiet gibt es keine Grenzen, keine Reisepässe, keine Polizei, keinen Stacheldraht – und auch keine Notwendigkeit dafür.“ Auf die Frage „Woher kommst du?“ würde sie gerne sagen: „Ich komme aus mehreren Orten [...] Ich komme aus vielen unterschiedlichen Städten und Kulturen, aber auch aus ihren Überresten und Ruinen, aus den Erinnerungen und dem Vergessenen, aus den Geschichten und dem Schweigen.“
Jeder Mensch, so die Schriftstellerin Elif Shafak in ihrem engagierten Essay „Hört einander zu!“ (Kein & Aber 2021), besteht aus vielen Schichten und im „Gegensatz zu dem, was Demagogen behaupten, ist Zugehörigkeit kein endgültiger Zustand, keine statische, in die Haut tätowierte Identität, sondern ständige Selbsterforschung und Infragestellung dessen, wer wir sind und wo wir sein wollen. Gruppen und Communitys sollten ebenso wie Gemeinden und Nationen als komplexe, heterogene, breit gefächerte und in ständiger Bewegung befi ndliche Gebilde betrachtet werden, die sich unablässig weiterentwickeln, verändern und anpassen.“ Es wäre eine Aufgabe der Gesellschaft, der Schule, der Familie, dies auch den Kindern beizubringen, „dass sie multiple Zugehörigkeiten besitzen und ihr Land und ihren Wohnort von Herzen lieben können, ohne je zu vergessen, dass sie Bürgerinnen und Bürger der Menschheit sind“.
„Gruppendenken und Filterblasen“ wiederholen bloß „das eigene Wissen und die eigene Meinung“, dabei wäre das Einander-Zuhören so wichtig, Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund müssten miteinander kommunizieren und Empathie einüben. „Mehr Spaltung, mehr Unstimmigkeit, mehr gegenseitige Ausgrenzung“ aber schadet der Gesellschaft und dient den Demagogen, die davon profi tieren. In Gesellschaften, „die Diversität nicht mehr wertschätzen und Pluralismus nicht mehr achten, werden Gegner als Feinde betrachtet, wird Politik mit martialischen Metaphern gespickt, und jeder, der anders denkt, gilt als ‚Verräter‘.“
Diskriminierung beginnt immer mit Sprache, weiß die Literatin, und: „Nach der Pandemie werden und dürfen wir nicht zum Ausgangszustand zurückkehren.“ Es sei Zeit, einige Grundgedanken neu zu bestimmen, darunter Demokratie, Freiheit, bürgerliche Rechten und Pfl ichten; es gelte, die Einträge aus „dem halb zerstörten Wörterbuch“ aus der Zeit nach dem Kalten Krieg und deren Bedeutung zu überdenken. „Wir müssen intellektuelle Nomaden werden, immer unterwegs, immer lernbegierig, müssen dem Drang widerstehen, in kulturellen oder geistigen Gettos zu verharren.“
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