6596421-1953_09_09.jpg
Digital In Arbeit

Das Calatrava-Kreuz

Werbung
Werbung
Werbung

Das kuriose Abenteuer, von dem nachfolgend Bericht gegeben wird, hatte ich im Schloß Leopoldskron anfangs September vor etwa zwanzig Jahren. Die Gesellschaft, in der wir soupiert hatten, war keine zahlreiche gewesen; nach Tisch besprach ich mich mit Reinhardt in Angelegenheit einer von Hofmannsthal hinterlassenen musikalischen Komödie, die ich zu Ende bringen und mit der das Theater am Kurfürstendamm in Berlin eröffnet werden sollte.

Wir saßen in der Bibliothek, und ich war eigentlich schon im Begriff, mich zu empfehlen, wartete aber nach beendigtem Gespräch über die musikalische Komödie noch die Erledigung einer anderen schwebenden Angelegenheit ab. Ich weiß nicht, ob es allgemein bekannt ist, daß Reinhardt die Gewohnheit hatte, zwar wenig zu sprechen, dafür aber um so mehr die Zunge dazu zu verwenden, nach einem Gegenstand zu suchen, der sich in seinem Mund oder zwischen seinen Zähnen zu verbergen pflegte. So auch an diesem Abend; und ich war, nachdem ich Reinhardts Bemühungen längere Zeit mitangesehen hatte, zur Ueberzeugung gekommen, der fragliche Gegenstand müsse sich diesmal links oben hinten befinden. Ich wartete, wie ich gestehen muß, mit Spannung darauf, daß der Professor endlich des an diesem Abend offenbar besonders widerspenstigen Dinges mit der Zunge habhaft werden möchte. Mit einem Male aber schien ihm dies gelungen zu sein, und ich stand befriedigt auf, um mich zu empfehlen, als die Szene unvermittelt eine Veränderung erfuhr, indem nämlich plötzlich die Tür, die aus dem großen Saal in die Bibliothek führte, geöffnet ward und ein anscheinend ganz fremdes Individuum eintrat. Es war dies ein Mensch von ungefähr fünfzig Jahren, doch viel jünger aussehend, und sehr groß und schlank. Er trug einen grauen, bestaubt und abgerissen aussehenden Reiseanzug. Er sah uns ebenso erstaunt an, wie wir ihn ansahen. „Nun, was gibt's?“ fräste schließlich Rudolf Kommer. „Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?“

„Ach, verzeihen Sie“, sagte der Fremde, „ich bin ganz zufällig da.“ Und weil der Bediente, der anwesend war, gleichfalls nicht anzugeben vermochte, wie der Unbekannte ins Haus gekommen wäre, so meinte Kommer: „Wie konnten Sie denn so mir nichts dir. nichts herein?“

■ Doch erwies sich alsbald, daß der Fremde keinesfalls ein Dieb, sondern bloß ein Herumstreicher war. Er mochte, wohl auf der Suche nach einem Nachtquartier, vom Garten her ins Haus eingetreten und darin so lange umhergegangen sein, bis er in die Bibliothek gekommen war. Während Reinhardt nach einer Kleinigkeit zu suchen begann, die er diesmal rechts unten hinten im Mund zu haben schien, sah er den Mann immerzu an. Kommer aber gab Auftrag, dem Unbekannten etwas zu essen zu geben und ihn im Wirtschaftsgebäude übernachten zu lassen. Als der Bediente den Fremden hinausführte, empfahl ich mich gleichfalls und ging mit hinunter, um zur Stadt zu fahren. Im großen Saal, in den wir eintraten, spiegelte das Mondlicht auf den roten Marmorfliesen. „Ich bin“, sagte der Fremde, „eigentlich nur aus Zerstreutheit heraufgekommen.“ Er sprach ein sehr korrektes, aber merkwürdig fremdartiges Deutsch. Die große Treppe hinabgehend und ein kleines Bündel, das er mithatte, schwenkend, fragte er: „Wie heißt eigentlich der Stil, in dem hier alles dekoriert ist?“ — „Barock“, erklärte ich ihm. — „Es ist alles ausgezeichnet gehalten“, sagte er. „Man sieht das doch sonst gar nicht mehr.“

Unter der Einfahrt stieg ich in den Wagen und fuhr nach Hause. Den Fremden brachte man neben den Stallungen unter. Er soll dann auch noch gefragt haben, ob die ungefähr achtzig Kühe, die er im Stall stehen sah, viel einbrächten.

Auch das Folgende weiß ich nur vom Hörensagen. Am nächsten Nachmittag, es war an einem Sonntag, als die Dienstleute Ausgang hatten und Kommer eben zur Stadt fahren wollte, sah er mit Erstaunen, daß eine Kuhmagd das Calatrava-Kreuz umhängen hatte. Um Gottes willen, dachte Kommer, das muß einer der Gäste, die im Sommer hier gewesen sind, verloren haben. Er, der in solchen Dingen schon Uebung hatte, erkannte es sofort: es war ein Kreuz aus vier gegeneinandergestellten Lilien, am ponceau-toten Band zu tragen.

„Was ist das?“ fuhr er auf die Magd los.

„Ein Anhänger“, stotterte die Magd.

„Nein“, rief Kommer, „das ist kein Anhänger! Aber woher haben Sie es?“ Die Magd behauptete zwar zunächst, es von irgendwem als Geschenk erhalten zu haben, allein schließlich stellte sich heraus, daß der Fremde, der von gestern, das Kreuz auf seiner Lagerstatt vergessen haben mußte; zum mindesten lag es da, als er, man wußte nicht wohin, fortgegangen war. .....

Mit dem Kreuz in der Hand eilte Kommer zu Reinhardt und kombinierte unterwegs: Wenn der Fremde das Kreuz nicht gestohlen hatte, so mußte er wohl einer der vielen seit den Revolutionen unbekannt umherirrenden Prinzen oder Minister sein, und dieses In-signium einstiger Größe hatte er im Bündel mitgetragen! Wer er wohl gewesen sein mochte? Reinhardt, indem er begann, mit der Zunge nach etwas zu suchen, das sich links oben, ziemlich weit vorn in seinem Mund verborgen zu haben schien, vermied es, irgendeine direkte Meinung zu äußern, und meinte, man müsse die Sekretärin, Fräulein Adler, fragen. Die wisse immer alles.

Zugleich aber schlug Kommer im Lexikon den Calatrava-Orden nach, und fand, dieser hätte mindestens ebenso viele Klassen, wie die Leichenbegängnisse, Schulen und gewisse andere öffentliche Anstalten Klassen haben. Welcher Klasse der Orden war, den er in der Hand hielt, war nicht so ohne weiteres zu entscheiden. Wahrscheinlich war es, der oröße nach zu schließen, eine sehr hohe Klarn.

Kommer suchte also im Hofkalender nach Leuten, die das Großkreuz oder Kommandeurkreuz von Calatrava besitzen mochten, hauptsächlich aber bei den Portugiesen, denn die spanischen Calatrava-Ritter hatten ja damals, vor zwanzig Jahren, noch keinen rechten Grund, verkleidet umherzuirren. Er fand aber da in der Eile nur eine Beschreibung, die auf den König von Portugal paßte, den „Gebieter über Algarbien, diesseits und jenseits des Meer'es in Afrika, den Herrn von Guinea, durch Eroberung, Schiffahrt und Handel von Aethiopien, Persien und Indien usw.“, und das schien ihm denn doch unwahrscheinlich, aber immerhin schlug er mit einem gewissen Schauer den Hofkalender zu. Der Fremde jedoch hat sich seinen Orden nicht wieder abgeholt, noch hat man von ihm je wieder etwas erfahren, gehört oder gesehen.

Aus: „Die Wege der Welt“, Verlag Herold, Wien

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung