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Das Dossier

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Zum Vollenden ihrer genialsten Erfindung — der Schrift — hat die Menschheit tausend Jahre gebraucht und in dieser Zeit entstand die Vorstellung von einem göttlichen Buche, wo die Taten jedes Menschen verzeichnet stehen. „Gib acht“, sollte dies sagen, „denn alles, was du tust, wird aufbewahrt, und es kommt ein Tag, da du Rechenschaft geben mußt.“ Das irdische und moderne Symbol dieses Buches ist das sogenannte Dossier, welches bei der Polizei, Partei, Kartei, Auskunftei und überhaupt allem, was auf „ei“ ausgeht, über dich angelegt und geführt wird. Dort steht alles von dir drin, und noch viel mehr. Während wir jedoch dank dem Gewissen ungefähr ahnen, was das göttliche Buch über uns notiert hat, ist in das irdische Dossier „keine Einsichtnahme gestattet“. Der ewige Richter mag sich deiner vielleicht erbarmen, das Dossier dagegen erbarmt sich bloß deines Denunzianten, indem es seinen Namen unter keiner Bedingung preisgibt. Denn sonst würde den Menschen das Denunzieren ja keinen Spaß machen, während das Dossier doch gerade davon lebt. Das Dossier ist wie ein Konzentrationslager: hinein kommt man leicht, während ein Verschwinden daraus eigentlich nur in der Vertikale — Grab bzw. Himmel — möglich ist. Dann erst werden über dich „die Akten geschlossen“. Du schlenderst in der Sonne, fütterst Spatzen und denkst an gar nichts — während dein Dossier reglos daliegt wie ein verdauendes Krokodil im Nilschlamm, über der Denunziation gegen dich brütet und sie sogleich „angeheftet“ hat (woraus die vielen modernen Heftapparate zu erklären sind). Doch der Mensch ist schon so: kaum erfährt er von seinem Dossier, so will er auch schon dessen Inhalt erfahren — dies ist ein rein metaphysisches Bedürfnis und entspricht dem „Erkenne dich selbst“ der griechischen sowie dem „Das bist du“ der indischen Philosophie. Aber das ist ein hoffnungslos phantastischer Gedanke, denn gegen die Verschwiegenheit des Dossiers ist das Grab eine Kaffeegesellschaft. Dort hineinzugucken gelingt höchstens einem frischernannten Innenminister, denn bekanntlich lassen sich alle Innenminister als erste Amtshandlung ihr eigenes Dossier vorlegen — eines der wenigen Beispiele ungetrübten irdischen Glückes.

Der Inhalt des Dossiers hat meist einen sittlich gehobenen StiL Neulich zeigte mir jemand die geheimen Denunziationen, welche seine eigenen Amtskollegen gegen ihn an die Gestapo geschickt hatten. Nur mit Hilfe einer amerikanischen Panzerarmee war es ihm gelungen, an sein Dossier heranzukommen. Diese Dokumente, deren Papierseiten sich beim Umblättern wie Kerkertüren in den Angeln bewegten, kreischten von moralischem Pathos: „Ich wurde schamrot, als Dr. X. auszusprechen wagte: ,Der Hitler ist ein Lump und ein Verbrecher' “, oder: „Mir stieg das Blut zu Kopfe, als Dr. X. sagte: .Seht euch doch bloß die Visagen der Nazis an!' “ Während nämlich der Berufsspitzel bloß die nackten (wenn auch vielleicht erlogenen) Tatsachen meldet und ein Erwähnen seiner Ge-fühlsaufwallung mit Recht als Schönheitsfehler vermeidet, kann der Denunziant, ungeübter Amateur, der er ist, mit seiner Innerlichkeit auf keine Weise dichthalten. Er muß das Gefühl von der Gemeinheit dessen, was er da tut, durch sittliche Empörung übertäuben und denunziert damit naiv sich selbst. Dieses „Bitte, ich bin kein Denunziant, ich muß bloß meinem Herzen Luft machen — die Sache will's!“ findet sich in sämtlichen Dossiers seit Erfindung der assyrischen Keilschrift.

Es gibt zwei Arten von Dossiers: solche in Diktaturen und solche in freien Ländern. In den Diktaturen hat nur die Regierung Dossiers, während die Untertanen eifrig beschäftigt sind, diese mit Denunziationen zu füllen. Das geht so weit, daß selbst beim Abschied nach einem Damenkaffee vorsorglich erinnert wird:

.....Auf Wiedersehen, liebe Frau Müller, und

Sie haben auch was gesagt...“ Im Westen dagegen hat sich der schöne Gedanke der freien Initiative auch der Dossiers bemächtigt, indem sich überdies jeder selbst eines anlegen kann. Diese Leute führen zuweilen den Namen Erpresser, und ihre Existenz setzt das Dasein einer öffentlichen Meinung voraus. In den Diktaturen jedoch muß der Erpresser zu seiner Bestürzung erkennen, daß er ausgespielt hat, denn er droht ja mit etwas, was fast jeder ohnehin tut: mitdenunzieren! Angeekelt stellt er fest, daß sich's hier bloß darum handelt, wer dem andern zuvorkommt. Sagt er, daß ich Staatsgelder veruntreut habe, so habe ich bereits mitgeteilt, daß er sich über Stalin nicht ganz günstig ge-. äußert hat — und dann wollen wir erst sehen, was schwerer wiegt... Kurz, in Diktaturen hat das Privatdossier kaum Makulaturwert, außer in einem Falle: wenn ich ein Dossier über die Regierungshäupter besitze, und wenn dieses bereits in einem ausländischen Banksafe deponiert liegt. Dann allerdings ist es eine Lebensversicherung.

Jedem das Seine: dem Osten der Denunziant, dem Westen der Blackmailer — jede Kulturform hat eben ihr typisches Verbrechen. Nur ist der Unterschied der: dort könnte jeder denunzieren, weil das die heiligste, mit dem Wesen der Staatsform verquickte Gewissenpflicht ist; während wir den Blackmailer immerhin als einen Schuft verachten, der am Freiheitsgute der öffentlichen Meinung schmarotzt. Der Denunziant denkt im stillen: Ich sag's dem Papa; der Erpresser droht deutlich: Ich sag's den Leuten — jener wird für sein Aussagen, dieser für sein Nichtaussagen belohnt. Mit der Oeffentlichkeit drohend, ist der Erpresser am mächtigsten, wenn er bereits von Berufs wegen erstens die Oeffentlichkeit beeinflußt und zweitens sich Dossiers anlegen muß. Das muß aber der Journalist, da es ja dessen Pflicht ist, zu wissen, wer die Leute sind und wie die „inside story“ lautet. Jeder Beruf hat seine Versuchung. Die des Journalisten heißt Erpressung, ebenso wie die des Bankkassierers Defraudation heißt, was noch nichts gegen diese Berufe aussagt, sondern nur bedeutet, daß es Vertrauensstellungen sind. Immerhin sind aber schon Kassierer mit der Kasse durchgebrannt, und das Wort „Revolverjournalist“ hat sich nicht umsonst geprägt. Es gibt eben Dossiers, gegen deren Wirkung die Napalmbombe ein Tautropfen ist. Doch paradoxerweise kann ein Dossier selbst dann wirken, wenn es gar nicht existiert —, sondern nur die Angst vor ihm im schlechten Gewissen! Denn lebt der Denunziant vom Unerkanntbleiben, so vermag ein Erpresser gerade davon zu leben, daß ihn alle Welt als solchen kennt und fürchtet. Aber den gleichen, sittlich empörten Tonfall haben sie beide; der Erpresser läßt seine Empörung den andern was kosten. In den zwanziger Jahren gab es in Wien einen Erpresser, der drei Journale herausgab: dieser brauchte schon gar nicht mehr zu drohen, sondern es genügte, wenn er sich bei einem Bankdirektor per“ Telephon nach dem Befinden der werten Gemahlin erkundigte ... Wie kann man sich gegen so ein Dossier schützen? Gibt man Geld, so wird man Komplice; zeigt man bei der Polizei an, so zeigt man eventuell sich selber an. Darum gibt es gegen Erpresser nur eines: daß man sich ihr eigenes Dossier verschafft. Das wirkt: gerade jener Wiener Erpresser verließ fluchtartig die Stadt und war seitdem ein gebrochener Mann.

Wie füllen sich die amtlichen Dossiers? Zum geringsten Teil durch eigene Recherchen —, die Leute tragen's ja selber zu! Jeder Wütende, der „was auf wen weiß“, schreibt ein Briefchen, oft sogar mit der richtigen Unterschrift. Doch eine große Polizei, wie etwa die Pariser Surete, hat noch ganz andere Informationsquellen. Ihr sind nicht nur die Concierges, sondern auch die Angestellten ungezählter Hotels, Nachtlokale, Rendezvousorte usw. zu Mitteilungen verpflichtet. Zudem gibt es eine Menge anrüchiger Berufe, die von der Polizei nur gegen Spionendienst geduldet werden (also auch hier eine Art Erpressung) — und das kommt dann alles in die Dossiers. Habe ich aber erst das Dossier von einem Menschen, so kann ich mir dadurch die Dossiers von Dutzenden beschaffen: denn der, von dem ich was weiß, weiß auch was von anderen Leuten. Dossiers pflanzen sich durch Selbstbefruchtung fort.

Seine höchste Bedeutung gewinnt das Dossier in der Politik, denn mit der Macht eines Mannes steigt auch dort der Wert seines Dossiers. Um gezählt zu werden, muß er sich als Idealgestalt präsentieren, denn politische Begeisterung ist ja stets moralische Begeisterung. Anderseits gehört zum Wesen der Politik der Kompromiß — und also oft genug die Kom-promittierung. Von diesem Gegensatz zwischen „Entweder — oder“ und „Sowohl — als auch“ leben die politischen Dossiers und kommen bekanntlich bei jeder Wahlkampagne ins Spuken. Dabei ist die Wirkungsweise solcher Dossiers komplizierter als man glaubt. In Frankreich zum Beispiel konnte ein Minister (den Clemen-ceau nur „le voyou de passage“ nannte) sich gerade dadurch an der Macht halten, daß die Polizei von ihm die grausigsten Dinge im Dossier hatte: er wurde von ihr gestützt, weil sie ihn in der Hand hielt. Einen gefügigeren Minister konnte sie sich gar nicht wünschen.

Heute, wo Osten und Westen einander bespitzeln, ist die Zahl der Dossiers ins Ungeheure gewachsen. Man bespitzelt die anderen — aber auch die eigenen, denn sie könnten zu den anderen gehören. Wieviel Dossiers setzt allein schon eine „Parteisäuberung“ in Bewegung —, das heißt wirklich aus Schmutz Seife machen! Gewiß, wir leben im Atomzeitalter, aber noch gewisser im Zeitalter der Dossiers über die Atomphysiker. Dabei hat die technische Entwicklung der Dossiers mit der sonstigen Schritt gehalten: Diktaphonstreifen geben ihnen Realismus, und durch den Mikrofilm ist das Problem der Aufstapelung gelöst: ein ganzes Renommee geht in den Bruchteil eines Fingerhutes! Und dabei ist das ja erst ein Anfang ... Früher brauchte man keine Dossiers, da genügte ein Plausch mit der Nachbarin. Heute aber, wo die Menschheit sich ganz unanständig vermehrt hat, gibt es kaum mehr die Nachbarin, sondern an deren Stelle ist das Dossier, schweigsames Depot allen Schwatzens, getreten. Und es ist, wenn man's recht bedenkt, kein schönes Bild der Menschheit, das solch ein Aktenbündel offenbart. Ein Priester, an dem täglich die Reihe der Beichtenden vorüberzieht, erhält ja ebenfalls fürchterliche Menschenkunde. Doch wenigstens wird ihm das wahr, freiwillig und reuig vom Schuldigen selber dargeboten — und er darf ihm Trost spenden. Aber anders ist das Dossier. Hier gibt es weder Reue noch Trost, und die Häßlichkeit des Berichteten wird nur noch durch die Häßlichkeit des Berichtenden übertroffen. Sollte man nicht lieber alle Dossiers verbrennen? — Gemach, gemach, das haben sämtliche Revolutionen getan. Am ersten Tage. Am zweiten wurden neue Dossier angelegt.

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