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Das Freiburger Modell

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Zwei Leitsätze aus Brechts „Kleinem Organen“ stehen, gewissermaßen als Motto, in dem Prospekt der Städtischen Bühnen Freiburg für die neue Spielzeit 1970/71: Die Empfehlung, sich selbst den reißendsten Strömungen in der Gesellschaft auszuliefern, und die Mahnung, daß es das Geschäft des Theaters ist, die Leute zu unterhalten, heute wie ehedem. Gleich in der ersten Woche der Spielzeit gab es vier Premieren, von denen wir drei besuchen konnten. Es gab auch eine Pressekonferenz im neueröffneten (eigentlich: neugeschaffenen) „Podium“ mit etwa 350 Plätzen, auf der Intendant Volker von Collande die Vorhaben für die nächste Zeit bekanntgab. Doch beginnen wir mit den Premieren:

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Zwei Leitsätze aus Brechts „Kleinem Organen“ stehen, gewissermaßen als Motto, in dem Prospekt der Städtischen Bühnen Freiburg für die neue Spielzeit 1970/71: Die Empfehlung, sich selbst den reißendsten Strömungen in der Gesellschaft auszuliefern, und die Mahnung, daß es das Geschäft des Theaters ist, die Leute zu unterhalten, heute wie ehedem. Gleich in der ersten Woche der Spielzeit gab es vier Premieren, von denen wir drei besuchen konnten. Es gab auch eine Pressekonferenz im neueröffneten (eigentlich: neugeschaffenen) „Podium“ mit etwa 350 Plätzen, auf der Intendant Volker von Collande die Vorhaben für die nächste Zeit bekanntgab. Doch beginnen wir mit den Premieren:

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Seit etwa zehn Jahren war in Freiburg kein „Tannhäuser“ mehr zu sehen. Grund genug, ihn neu zu inszenieren. Dr. Peter Brenner, ein Sohn Felsensteins, hat sich dieser Aufgabe unterzogen. Bedenkt man, daß nach Wieland Wagner jede szenische Interpretation Wagners ein „Himmelfahrtskommando“ ist, so muß man dem jungen Regisseur bestätigen, daß . er, mit Geschmack und Fachkenntnis ausgestattet, unter den gegebenen bescheidenen Verhältnissen fast ein Optimum erzielt hat. Vom heiklen 1. Akt gibt unsere Zeichnung eine Vorstellung: Kein turbulentes Bacchanale, sondern eine majestätisch thronende Venus — und ein die Gefühle und Visionen Tannhäusers nur andeutendes Tänzerpaar in einem fast kühlen Pas de deux. Der Hintergrund (Ausstattung Hannes Rader), in etwas verschwommenen Farben, etwa im Stil der Marie Laurencin, suggerierte etwas von jener Stimmung, die Wagners Musik ausdrückt. Das Tal vor der Wartburg und die oft angesungene Halle — ohne besondere Kenzeichen, die Kostüme ein wenig provinziell und nicht immer sehr kleidsam. Von den richtig und vernünftig geführten Sängerdarstellern bot Eva Illes in der Doppelrolle als Venus und Elisabeth (welch seltner Fall!) ohne Zweifel die beste Leistung. Aber auch Herbert Becker (als Gast), der die Partie des Tannhäusers zum erstenmal sang, Karl Heinz Armaan — Wolfram, der Bulgare Georg Bo-rowansky — Landgraf, die übrigen Minnesänger und Sewi Constantin als Hirtenbub waren bemerkenswert, wenn man nicht Staatsund Hoftheatermaßstäbe anlegt. Das Orchester unter der Leitung von Thomas Ungar, der eher zur Mäßigung als zum klanglichen und dynamischen Exzeß neigt, war ohne Tadel: präzis und klangschön, befriedigend die Chöre mit einigen schönen Tenören. An kleinen Ungeschicklichkeiten wären anzumerken: das ein wenig anachronistische In-die-Saiten-Greifen der Minnesänger, das auf den Takt der Musik erfolgende „Marschieren“ der Knappen und des Pilgerchores u. a. Aber dies nur am Rande. Das festlich gestimmte Publikum war für den neuen „Tannhäuser“ dankbar.

In der Venus Reich führt auch Arrabal. Aber sein „Garten der Lüste“

(nach Amsterdam auch in Wien gespielt) ist mehr von den Höllenvisionen Breughels als von den frommen Bildern des deutschen Mittelalters inspiriert. Markwart Müller-Elmau war der Regisseur der Freiburger Aufführung, zu der Hannes Rader ein zweckmäßiges Bühnenbild in Weiß (mit Affenkäfig und Riesenei) und Ingeborg Graff farblich aparte Kostüme geschaffen hatten. Gespielt wurde intelligent und hinreißend, sozusagen ohne Rücksicht auf Verluste und mit vollem Einsatz: Almuth Schmidt — Lais. Ilse Boettcher — Miharca, Bernd Kolarik — Teloc und Peter Lerchbaumer — Zenon. Es war dies der erste Arrabal in Freiburg, und das wüste Stück mag manchem Premierenbesucher recht „spanisch“ vorgekommen sein. Aber auf der „Podium“-Bühne, ohne Vorhand und

Souffleurkasten, will man — so Intendant Collande — in Hautnähe zum Publikum spielen und die neuesten Dinge, ohne die Hypothek des konventionellen Hoftheaters, dem Publikum auf dem Tablett präsentieren. Gedacht ist vor allem auch an die Studenten der nahegelegenen Universität, die aber — da das Semester noch nicht begonnen hat — an diesem ersten Abend noch kaum vertreten waren. Doch was nicht ist, wird werden. Dieser Anfang jedenfalls war vielversprechend. Die Städtischen Bühnen Freiburg haben nämlich auch einen neuen Chefdramaturgen, den Wiener Doktor Franz Wiünauer. der in seiner Heimatstadt als Kritiker begann, dann als persönlicher Referent von Prof. Schäfer nach Stuttgart ging und zuletzt in Münster als Chefdramaturg tätig war. Ihm sind wohl die ausgezeichnet redimierten Programmhefte zu danken, er ist ein Mann mit Ideen, kennt das Neue, weiß kritisch zu unterscheiden und kann seinem ,,Chef“ ein guter Mitarbeiter werden. Volker von Collande selbst ist ein erfahrener Theaterpraktiker, der genau weiß, was man den verschiedenen „Publikümern“ zumuten kann. Seine Stegreifpräsentation des Arrabal-Stückes war jedenfalls eine Meisterleistung. Auch Collandes Ausführungen zur Frage, ob Intendanten, wenn sie nicht Saurier oder überflüssig sein wollen, zu Anarchisten werden müssen (in „Die

Deutsche Bühne“, Heft 7/8, 1970) sind lesens- und bedenkenswert...

Den Mut zum Aggressiv-Unpopulären hat er jedenfalls auch durch die Annahme von Hochhuths „Guerillas“ bewiesen. Diese Tragödie in zwölf Bildern wurde erst im Mai dieses Jahres in Stuttgart uraufgeführt, Freiburg folgt also sehr bald mit seiner Premiere nach. Friedhelm Schauwienhold hat, in Zusammenarbeit mit dem Autor, in mehrtägigen Besprechungen einen spielbaren Teil aus Hochhuths 400 Seiten umfassenden „Dokumentation“ herauspräpariert. Das Stück, obwohl unhistorisch und durchweg von erfundenen Personen getragen, ist im höchsten Grad aktuell, politisch und brisant. Zu Beginn der interessanten Aufführung, die großstädtisches Format hat, verkünden Projektionen: „Nicht fremde Raketen werden unsere Städte zerstören, sondern unsere Guerillas.“ Und im Programmheft lesen wir die folgenden Sentenzen: „Ich zittere um mein Land, wenn ich darüber nachdenke, daß Gott gerecht ist“ (Jefferson). „Man hält mich für einen Meister der Ironie. Jedoch auf die Idee, im Hafen von New York eine Freiheitsstatue zu errichten — wäre selbst ich nicht gekommen“ (G. B. Shaw). „Wenn ich an Südamerika denke, finde ich keinen

Schlaf“ (Johannes XXIII.). Hochhuths „Fiktion“ sieht folgendermaßen aus: Ein US-Senator, engster Vertrauter des Präsidenten, entschließt sich zur Zusammenarbeit mit den verschiedenen, in Nord- und Südamerika operierenden Guerillagruppen und bereitet den Umsturz vor; aber einen unblutigen: durch Unterwanderung des Sicherheitsdienstes und der Streitkräfte durch eine Elite politischer Reformer und Idealisten. Aber das Vorhaben mißlingt: erst wird die Frau des Senators, die in geheimer Mission in Südamerika ist, dann er selbst von seinem Freund, dem CIA-Chef, umgebracht. Doch sein Pilot übernimmt die Führung der Guerillas, und der Kampf geht weiter. Das wird von F. Schauwienhold als Regisseur und dem Bühnenbildner Hannes Rader, in Zusammenarbeit mit den Technikern des Hauses, mit komplizierten Bild- und Tonmontagen, Lautsprechern und Projektionen, in suggestiver Weise auf die Bühne gebracht. Von dem guten Dutzend Schauspielern seien nur die Hauptdarsteller genannt: Jochen Schmidt, Renate Heuser, Hanna Meyer, Peter Versten, Franz Josef Saile und Eduard Buggle.

Für die „Podium“-Bühne sind für die nächsten Monate eine Reihe neuer und neuester Autoren vorgesehen, darunter Horväth („Zur schönen Aussicht“) und ein junger Wiener, Wolfgang H. Fleischer („Perpetuum mobile“ oder „Was geschieht“), der letzte Sekretär Heimito von Do-derers, dessen Manuskript in zahlreichen Besprechungen „beim Wein“, wie Intendant von Collande erzählt, zu einem Stück geformt wurde. Das wäre also dann der dritte (oder vierte) Wiener bei den Freiburger Städtischen Bühnen. Denn auch Thomas Ungar tat seine ersten Schritte als Dirigent der in Wien begründeten „Philharmonia Hungarica“ bei uns. Und nicht ohne Erfolg. Zum Schluß noch ein Blick auf Thomas Ungars Konzertprogramm, das nach dem Grundsatz „jeweils ein neues Werk“ zusammengestellt ist. Hier spannt sich ein Bogen von VI-valdi über die Klassiker und Romantiker zu Bartök, Mainardl (als Komponist!), Prokofieff, Blacher, Fortner, Einem, Berg und Martinu bis Ligeti. (Wieder ein Wahlwiener!)

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