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Das Hündchen lebt noch ...

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Ob auch sein Herr? Jener Oberst von B., den ich im Pfarrhof zu G., einem kleinen Ort am Fuße des Zirbitzkogels, traf? Er hatte das Hündchen, als er im Pfarrhof in den bewegten Maitagen des Jahres 1945 mit dem versprengten deutschen Stab der Wlassow-Armee einquartiert War, zurückgelassen. „Es geht ihm besser da!“ meinte er noch...

Vor ein paar Tagen war ich wieder einmal oben. Das Hündchen springt mir entgegen, bellt und lacht. Ja, lacht! Hunde können lachen, nur kann es nicht jeder sehen! Die Leute rufen es „Buale“, in den langen Jahren, seit sein Herr es verlassen, ist es dodi ein rechter Steirer geworden.

Wie war das damals? Ach, ich habe nichts vergessen. Wie könnte man das vergessen! Wie die Gruppen von deutschen Soldaten, zu Fuß und zu Pferd, über den Zirbitz an dem kleinen Ort vorbeiziehen! An dem kleinen Ort, sage ich. Nun, man darf sich da nicht etwa eine Kirche, ein Rathaus mit behäbigen Bürgerhäusern vorstellen wie im Flachland. Diese Bergpfarren sind keine geschlossenen Siedlungen. Weithin liegen die einschichtigen Berghöfe, die das Kirchenvolk stellen, im Hochtal verstreut. Gewiß, die Mitte dessen ist freilich der Pfarrhof, die Kirche mit dem lärchenumsäumten Friedhof. Dann gibt es noch das Wirts- und das Schulhaus. Ein Bergslräßchen zieht unweit vorbei. Fast alle kommen sie herauf zum Wirtshaus, die da müde und erschöpft über den Zirbitz herunterkommen. Es sind deutsche Soldaten aller Waffengattungen, die aus der Südfront heimflüchten und der Gefangenschaft zu entgehen suchen. Schon seit Tagen reißt der Zug nicht ab. Immer wieder kommen neue Gruppen, Tag und Nacht. Und immer wieder gibt ihnen die freundliche Wirtsmutter Brot und Milch und Kartoffeln. „Ich muß immer denken, es könnten auch meine eigenen Söhne dabei sein!“ sagte sie. „Vielleicht finden auch §ie eine gastliche

Stube, wenn sie nach Hause unterwegs sind.“--

Drei Söhne hat sie „draußen“ und von einem hört sie schon seit zwei Jahren nichts mehr.

An einem Abend aber bleibt eine größere Gruppe im „Ort“. Sie waren über den Zirbitz sogar mit einem Lkw gekommen. Weiß Gott, wie! Auf dem Pfarrgrund haben sich die Kosaken aus der Wlassow-Armee niedergelassen, Zelte werden errichtet, und die Pferde grasen friedlich auf der saftigen Wiese. Der deutsche Stab aber, bestehend aus jenem Oherst von ß. — mit seinem Hündchen —, einem Major F., der noch nicht fassen konnte, daß der Krieg aus ist, dann einem jungen Offizier, der sich dem Pfarrherrn gegenüber als Angehöriger des Franziskanerordens zu erkennen gibt, und ein Stabsarzt aus Vorarlberg, dieser deutsche Stab ist im Pfarrhof einquartiert. Am nächsten Tag ziehen sie seltsamerweise nicht weiter. Die Kosaken veranstalten auf der Wiese Pferderennen. Das Hündchen stellt zwischen ihnen und dem Stab die Verbindung her. Lauft hinüber und herüber, bellt bei den Pferden pflichtschuldig und wedelt um seinen Herrn. „Er ist sehr verwöhnt, der Kleine“, meint der Oberst, als er mein Interesse an dem rassenreinen langhaarigen Dackel bemerkt.

Der Franziskaner übergibt dem Pfarrherrn seine sakralen Geräte. »Für alle Fälle“, meint er. Der Oberst lächelt resigniert dazu und sagt: „Nun, das Spiel ist aus!“ Es war leichthin gesagt, doch ich höre die ganze Bitterkeit, die ganze Fragwürdigkeit, die sich in diesen Worten ausdrückt. Was wird jetzt sein? Nach dem „Spiel“? — Drunten im Tal soll die Bundesstraße, die Steiermark und Kärnten verbindet, noch ein Stück unbesetzt sein. Die Engländer rücken von Kärnten herauf, die Russen stehen noch in Judenburg. Sowjetische Kradfahrer aber waren schon auf dem Sattel, dem Verbindungsstück, gesichtet worden.

Die Soldaten, die. das Hochtal hinunterziehen, fragen immer dasselbe: „Kommen wir noch durch?“ Sie wählen meist die Nacht, um so leichter die große Straße zu überqueren und auf den jenseitigen Bergpfaden ins Salzburgische hinüberzuwechseln. Jeder denkt sich: Vielleicht komme ich heim, ohne in Gefangenschaft zu geraten. Erstaunlich, wie aus dem uniformierten Massenmenschen wieder ein einzelner wird, • ein Mensch, ein Familienvater, ein Bruder, ein Geliebter!

Unsere Gruppe von der Wlassow-Armee bleibt noch immer in G. Drei Tage schon. Erst am vierten verteilen sie die Marketenderware und den ganzen Lebensmittelvorrat an die Bauern und die Flüchtlinge aus der Stadt, die im Schulhaus seit Wochen schon notdürftig untergebradrt sind. Endlich einmal wieder Fett, Zucker, Reis, Schokolade! Ein Kosake verlangte später den Sack Zucker wieder zurück, wird wütend, als niemand mehr von dem Sack weiß. Der Bregenzer Stabsarzt schreibt im Gastzimmer noch schnell einen Brief an seine Frau: „Ich komme bald, bin schon in Österreich!“ Wir raten ihm, Zivil anzuziehen und durchzubrennen. Aber er will bei den Seinen bleiben. „Die englische Gefangenschaft werden wir auch noch überstehen“, meint er. Die Engländer haben gemeldet, daß die Gruppe im Tal übergeben soll. Jetzt endlich brechen wir auf. Oberst von B. schaut auf sein Hündchen. „Wie wird es dir ergehen?“ Da greift der Pfarrer ein und bietet dem Vierbeiner eine Unterkunft. Glücklich schlägt der Oberst ein, dodi das Hündchen ist todunglücklich. Die ganze Nacht schläft es nicht, hockt auf einer zurückgelassenen Militärbluse seines Herrn und seufzt. Die freundliche Haushälterin spricht ihm gut zu, stellt ihm warme Milch hin. Doch das Hündchen schaut weder die Frau noch die Milch an. So geht es Tage hindurch. Da führe ich ihn hinaus ins Freie. Er hat die Fährte seines Herrn noch nach Tagen aufgespürt und will mich mit aller Gewalt ins Tal ziehen. Es ist schwer, ihn wieder in den Pfarrhof zurückzubringen. Langsam, sehr langsam gewöhnt er sich an seine neue Umgebung. An seine neuen Pflegeeltern, an mich. Aber seinen Herrn, jenen Oberst von B., vergißt er nicht. Alles, was dieser im Pfarrhof zurückgelassen, und sei es nur eine Schachtel Streichhölzer, müssen wir verschwinden lassen, sonst reißt die Wunde immer von neuem wieder auf! Als viele Tage danach verspätete Landser das Bergsträßchen heranrücken, rennt er auf sie zu, kehrt aher gleich wieder mit hängender Fahne enttäuscht in den Pfarrhof zurück.

Ach, wenn er erst wüßte, wie es seinem Herrn, wie es dem ganzen Stab und den Kosaken ergangen! In plombierten Wagen wurden sie an die Russen ausgeliefert. Für Sibirien.

Vor ein paar Tagen war ich wieder einmal oben. Das Hündchen springt mir entgegen, bellt, wedelt und lacht! Ich frage im Gasthof, ob dje Söhne heimgekommen. Ja, einer ist nach Jahren heimgekommen, aus der Gefangenschaft, einer ist in den Maitagen 1945 gefallen, einer ist noch immer vermißt. Die Frau des Stabsarztes aus Vorarlberg war schon zweimal da und fragte um ihren Mann. Er schrieb doch: „Ich komme bald, bin schon in Österreich!“ Nun das Hündchen cjer Gruppe konnte man ihr zeigen. Sie streichelte es, mit Tränen in den Augen. Das Hündchen lebt noch ...

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