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Der Heimweg

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Dichten und Leben sind nicht wie Traum und Wirklichkeit verschieden oder verschwistert, auch nicht wie Feuer und Rauch oder Kohle und Diamant, sondern sie stehen in einem viel engeren, fast untrennbaren und kaum darstellbaren Verhältnis der Kongruenz und der Doppelgestalt. Sie spalten sich manchmal und gehen wieder ineinander ein, so wie auf einem vorher geschilderten Weg der Körper sich selbst verlassen, neben seiner eigenen Hälfte hergehen und wieder mit ihr verschmelzen konnte.

Immer stärker wird mein Bedürfnis, die Dinge und die Erscheinungen, die Welt und die Mitmenschen, von allen Seiten zu sehen. Immer geringer die Neigung zum Einseitigen, zum apodiktischen Urteil, sei es Völkern, Personen, Ereignissen gegenüber. Nicht, daß ich das Häßliche und Gemeine nicht hassen kann, da ich das Schöne und Gute liebe. So lange der Mensch lebt und liebt, wird er auch da, wo seine Scheu zur Abscheu wird, hassen und verachten. Aber im Haß muß noch die Ahnung der möglichen Liebe stekken, im Verachten noch die Sehnsucht nach Verehren, und die Liebe selbst muß stets bereit sein, sich aus der Verschwendung zu mehren und sich zu erneuern. Es kann nie ztl viel Liebe geben auf der Walt, höchstens zu wenig, und wo sie spart oder abmißt, geht sie bald an der Auszehrung ein.

Ich bin auf dem Heimweg, schon recht nah am Ziel. Die letzte Strecke eines langen Weges verlangt oft noch einen letzten Aufwand an Mühe und Energie, doch wird er schon getragen vom Bewußtsein seiner baldigen Ueberwindung und vom Vorgefühl der kommenden Erleichterung. Schon spürt man die Füße vom Druck des festen Schuhwerks befreit, schon genießt man den brennenden Schauer des kalten Wasserstrahls auf der Haut, das Dehnen der Glieder, das kühle, frische Hemd. Auf dem Heimweg beginnt man öfter zu singen. Man singt sich die Müdigkeit aus den Knochen —, man singt sich die Freude ins Herz. Die Freude hat uns vielleicht auf dem Heimweg erwartet. Es mag sein, daß sie nicht den ganzen langen Wesc mitgegangen ist, daß sie sich zum Beispiel um den harten Aufstieg gedrückt hat, daß sie gleich lieber auf einem Baumstrunk sitzenblieb, von dem sie wußte, man wird; wieder dran vorbeikommen und nicht übersehn, weil auf seinem moosigen Pelz der helle Waldklee wuchert, an seinen Holzrestcn die Schale des Baumschwamms klebt. Die Freude läuft uns nicht nach, sie hört nicht auf unseren Pfiff. Sie weiß, daß sie nicht immer das Innere des Menschen ausfüllen darf, in dem ihr Platz oft frei bleiben muß, ein leerer Platz, eine Höhlung ohne Quell, ein verlassener Nistraum, ein vergessener Ausguck im Turm. Auf den langen Wegen muß das Herz oft leer sein, auch leer an Freude, damit nichts, was sich in ihm spiegeln will, verdrängt, verfälscht oder beschönigt wird. Jetzt aber hockt sie wartend an jener Lichtung, auf die man schon etwas stolpernd, mit müden Kniekehlen, hinaustritt. Von dort aus kann man das Haus sehn, das man sein eigen nennt, wenn man es bewohnt und pflegt, in Ordnung hält und dafür arbeitet, ganz gleich, ob man es gekauft oder gemietet, mit Geld bezahlt oder nur geliehen hat. Dieser Anblick des Hauses, aus einer kleinen Entfernung, die es noch zu durchmessen gilt, gleicht einer letzten Statjon, die aller Mühe Lohn bedeutet. In den kühlen und kälteren Jahreszeiten besonders, wenn aus dem Schornstein des Hauses der blaue Rauch aufkräuselt, und in der Dämmerung ein paar Fenster schon gelben Lichtschein spenden, erfüllt uns sein warmes, ernstes, unverändertes Gesicht mit einer erregten Freude, als kehre man von einer langen, schwierigen Reise zurück. Man weiß, wenn man näher kommt, d^nn wird man den Holzrauch riechen, und genau unterscheiden, ist es Birke vom offnen Kamin, sind es die Buchenscheiter, die man in der Frühe gespalten und beim Herd aufgeschichtet hat.

Und man freut sich aufs Haus, auf seine Schwelle, den Türgriff, den Augenblick der Dunkelheit im fensterlosen Vorraum, bevor man das Licht andreht, den Haken für den Hut, das Knarren einer Treppenstufe, man freut sich auf alles Gewohnte und Bekannte, das ein Ausdruck des Belebten und Beseelten ist.

Weiß man das Haus menschenleer, wohnt man grade allein darin, so freut man sich auf die Stille, und ihr waches, vielstimmiges Geflüster. Sonst aber freut man sich auf die

Menschen, die es mit einem bewohnen, auf die Nähe, den Laut, das Wort, die Verständigung, sogar auf das vertraute Schimpfen, da man doch immer zu spät kommt. Man freut sich auch auf das Essen und auf den abendlichen Wein, auf das Sitzen an einem gut gedeckten Tisch, um so mehr, wenn man ihn selber decken und besorgen hilft und der Bedienung entraten kann. Man freut sich auf Gäste und Tischgenossen, und wenn man sie wartend weiß, singt oder ruft man ihnen auf der letzten Strecke laut entgegen. Ja, ich liebe das Tafeln und das Gasten zu Haus, so wie ich die Alleinhcit auf den langen Wegen liebe, ich liebe es, Freunde an meinem Tisch zu haben, Wirt und Mundschenk einer sym-posionalen Gemeinde zu sein, und ich liebe, so singt man wohl auf dem Heimweg, ich liebe das Leben, die guten Gaben des Lebens, wo immer sie uns zuteil werden, ich liebe die ungetrübten Stunden der Gastlichkeit, wenn mir auch stets das Gerippe gewahr ist, das, wie im sokratischen Kreis, als stummer Tischgenosse dabei sitzt.

Ich liebe das Leben und seine Wege, und bin mir stets ihrer Abschüssigkeit und ihrer lutschigen Moräne, der vampirisch saugenden Totenmäuler, der pilzigen Fäule in Spalten, Ritzen und Höhlen, des Verwesungshauchs und des Dämonengetrippels über und unter der Erdkruste bewußt. Ich weiß das Ansaugende der Unsicherheit, das Flalluzinatori-sche der menschlichen Einbildungskraft, das Schwankende des gesellschaftlichen Bodens, die immer über uns kreisende, unter uns schwelende Katastrophehgefahr.

Aber ich liebe das Leben, das menschliche Leben, nicht in einer illusorischen Vorstellung von seiner Glücksbestimmung, nicht als einen regulierbaren Vorgang zur Erreichung möglicher Zufriedenheit, sondern das bedrohte, umstellte, unendlich tragische und unendlich freudvolle Leben der Geschöpfe, die ein Schöpfer erweckt, erschaffen, beseelt hat. Ich liebe es in Furcht und Ehrfurcht, Vertrauen und Dankbarkeit.

Aus „Die langen Wege“, S.-Fischer-V'erlag.

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