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Der letzte Tag des Krieges

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Beim Morgengrauen werden wir durch das Rollen von Panzern geweckt. Die Stellergeschütze treten nicht ins Gefecht. Es heißt, daß ihre Besatzung, eine Arbeitsdienstmannschaft, sich in der Nacht zerstreute, nachdem sie mit den letzten Schüssen ihre Kanonen sprengten und ihren Feldmeister, der in Zivil entfliehen wollte, umbrachte.

Um neun Uhr kündet ein gewaltiges, sich immer mehr verstärkendes Mahlen die Ankunft der amerikanischen Panzer an. Die Straße ist menschenleer. Der übernächtige Blick sieht sie noch kahler, luftleer, im Morgenlicht. Ich bin in diesem Landstrich, wie schon so oft im Leben, der letzte, der Kommandogewalt besitzt. Gab gestern den einzigen Befehl in diesem Zusammenhange: die Panzersperre zu besetzen und dann zu öffnen, wenn die Spitze sichtbar wird.

Wie immer in solchen Lagen, spielen sich indessen, wie ich durch Beobachter erfahre, unvorhergesehene Dinge ab. Die Sperre liegt im „Lannewehrbusche“, der alten Landwehr, an einem Waldstück, das mein Vater einst erwarb. Dort erscheinen zwei Unbekannte und stellen sich mit Panzerfäusten am Waldrand auf. Sie werden gesehen und bringen die Spitze ins Stocken, da geraume Zeit verfließt, ehe man sie durch vorgeschickte Schützen entwaffnet und gefangennimmt.

Dann kommt noch ein einsamer Wanderer und bleibt unweit der Sperre an einem Waldweg stehen. Im Augenblick, in dem der erste graue Wagen mit dem fünfzackigen Stern erscheint, entsichert er eine Pistole und schießt sich durch den Kopf.

Ich stehe am Fenster und blicke über den noch kahlen Garten auf die Chaussee hinaus. Das mahlende Getöse nähert sich. Dann gleitet langsam, wie ein Augentrug, ein grauer Panzerwagen mit leuchtendem weißem Stern vorbei. Ihm folgen, dicht aufgeschlossen, Kriegswagen in ungeheurer Zahl, die Stunden um Stunden vorüberziehen. Kleine Flugzeuge überschweben sie. Das Schauspiel macht einen hochautomatischen Eindruck in seiner Verbindung von militärischer und mechanischer Uniformität — als rollte eine Puppenparade vorbei, ein Zug von gefährlichen Spielzeugen. Zuweilen pflanzt sich ein Halt durch die Kolonne fort. Dann sieht man die Marionetten, wie vom Faden gezogen, vornüberschwanken, während sie sich beim Anfahren wieder zurückneigen. Wie immer unser Blick sich an gewisse Einzelheiten heftet, so fallen mir besonders die zum Funken ausgeschwenkten Ruten auf, die über den Panzern und ihren Begleitfahrzeugen schwanken: es bildet sich in mir der Eindruck einer magischen Angelpartie, vielleicht zum Fange des Leviathans.

Ununterbrochen, langsam, doch unwiderstehlich wälzt sich der Strom vorbei, die Flut von Männern und Stahl. Die Mengen von Sprengstoff, die ein solcher Heereszug bewegt, umgeben ihn mit einer furchtbaren Ausstrahlung. Und wieder, wie schon 1940 auf den Vormarschstraßen um Soissons, empfinde ich den Einbruch gewaltiger Ubermacht in eine völlig zerschmetterte Region. Und auch die Trauer kehrt wieder, die mich damals ergriff. Von einer solchen Niederlage erholt man sich nicht wieder wie einst nach Jena oder nach Sedan. Sie deutet eine Wende im Leben der Völker an, und nicht nur zahllose Menschen, sondern auch vieles, was uns im Innersten bewegte, muß sterben bei diesem Übergang.

Man kann das Notwendige sehen, begreifen, wollen und sogar lieben, und doch zugleich von ungeheurem Schmerz durchdrungen sein. Das muß man wissen, wenn man unsere Zeit und ihre Menschen erfassen will. Was ist Geburtsschmerz, was ist Todesschmerz bei diesem Spiel? Vielleicht sind beide identisch, wie ja der Sonnenuntergang zugleich auch Sonnenaufgang für neue Welten ist.

„Besiegte Erde schenkt uns die Sterne.“ Dies Wort wird räumlich, geistig und überirdisch in unerhörtem Sinne wahr. Die äußerste Mühe setzt ein äußerstes, noch unbekanntes Ziel voraus.

Aus dem Buch „Strahlungen“, E.-Schön-leithner-Verlag, Linz

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