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Die lieben Mitmenschen

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Das physikalische Gesetz ist ganz einfach: Da, wo ein Körper ist, kann kein zweiter sein. Wir haben das seinerzeit in der Schule gelernt. Nur die Liebe und der Proporz sind imstande, das Naturgebot aufzuheben: Zwei Liebende können durchaus ineinander verschmelzen, und da, wo etwa ein Direktor genügen würde, sitzen gleichzeitig derer zwei.

Sonst aber scheint die Regel unumstößlich. Daß in letzter Zeit immer mehr Menschen versuchen, ihr zuwiderzuhandeln, muß an dem liegen, was man so leichthin Zeitgeist zu nennen pflegt. Die Wiener Kärntnerstraße, Supermärkte und Autobahnen legen beredte Reispiele dafür ab, wie Heutige am überlieferten Physik wissen zu rütteln versuchen.

Da geht der friedliche Spaziergänger, Auslagenbetrachter und Fußgängerzonenbummler also vor sich hin, Roses weder ahnend noch im Schilde führend. Lieblich dringen ihm die Klänge behördlich genehmigter Südamerika-Rhythmen, dargeboten von einer Gruppe der letzten versprengten Inkas, ans Ohr. Da! Ein heftiger Stoß schleudert den Wandelnden grob zur Seite. Was war das? Ein Mitmensch. Der Müßiggänger hatte dessen vorausbestimmten Kurs gekreuzt, er war, schlicht und einfach, im Wege.

Da sucht der Kaufwillige zwischen den Regalen des Megas-hops nach einem lustversprechenden Appetithappen, schlängelt sich rücksichtsvoll zwischen wild geparkten Drahtwager-ln durch die Gänge, achtet der vom Lautsprecher ausgebrühten Sonderangebote. Da! Ein schmerzhafter Schlag in die Waden läßt den Nahrungssuchenden in die Knie gehen. Was war das? Ein Mitmensch. Der Interessent war in dessen Bahn gestanden, er war, «chlicht und einfach, im Wege.

Da fährt der frohe Automobilist in die Gegend, ein Ausflugsziel anpeilend oder aber einen wohl angelegten Geschäftstermin. Sämtliche Regeln des Straßenverkehrs beachtend, Fahrbahnmarkierungen und Hinweisschilder peinlichst genau berücksichtigend, benützt er den rechtesten Fahrstreifen und lauscht den durchs Autoradio verkündeten Staus.

Da! Ein krachender Hieb ins Heck schleudert den Braven nach vorne. Was war das? Ein Mitmensch. Der Straßenkamerad war auf dessen Spur gefahren, er war, schlicht und einfach, im Wege.

Mitunter, wie beim letzten Beispiel, geht der Crash auch für den Verursacher nachteilig aus. Doch da, in diesem letzten Satz, ist bereits das Wort verwendet, das sich der Sicht des Mitmenschen völlig anders darstellt: Verursacher. Für ihn, für den Mitmenschen also, ist es der andere, dem die Schuld zuzuweisen ist. Wäre er nämlich nicht da gegangen, gestanden oder gefahren, wo er, der Mitmensch, zu gehen, zu stehen oder zu fahren beabsichtigte, hätte nie und nimmer eine Karambolage stattgefunden.

Das leuchtet ein. Man muß, wie schon die alten Römer sagten, auch den anderen Teil hören. Den Mitmenschen also.

Die wir also allzu schnell mit der Klage zur Stelle sind, die Heutigen seien, worum und wodurch auch'immer, rücksichtslos geworden, sollten in uns gehen. Hier werden wir niemandem im Wege sein, so viel als erstes. Vor allem aber werden wir er-, kennen, was wir dem Mitmenschen schuldig sind. Uns nämlich, so schnell und so wirkungsvoll als möglich, wegzuräumen. Dann steht auch dem Wissen aus der Physikstunde nichts mehr im Wege.

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