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Die ölberggruppe von Ried

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Unaufhaltsam schreitet seit dem Ende des ersten Weltkrieges der Ausverkauf, das Abbröckeln historischer Kunstwerte in unserem Lande fort. Wie viele Privatsammlungen sind inzwischen aufgelöst und versteigert worden. Wie viele Sammlerpersönlichkeiten sind ohne Nachfolge verstorben oder mit ihren Schätzen ausgewandert. Krieg und Kriegsfolgen haben empfindliche Lücken in den Denkmälerbestand gerissen.

Das Denkmalamt kämpft einen verzweifelten Kampf gegen den Verfall, den völligen Verlust alter, historischer Bauwerke. Die öffentlichen Museen können Neuerwerbungen kaum durchführen, da Mittel und Mäzene gleicherweise mangeln. Ihre Arbeit muß sich darauf beschränken, zu erhalten und zu sichern, wissenschaftlich und erzieherisch zu erschließen, was ein gütiges Geschick noch unangetastet gelassen hat. Forscherentdeckungen im Bereiche der von glücklicheren Jahrhunderten gehäuften Schätze müssen von innen her neue Werte schaffen, da von außen eine Vermehrung wie gesagt nicht zu erwarten ist. Ebenso gilt es, rundum im Lande verstreutes, vergessenes, verschollenes Kunstgut ins Bewußtsein heraufzuholen, seine Werte ans Licht zu bringen und neu vor Augen zu stellen. Dabei ergeben sich in Österreich immer wieder Überraschungen. Dem überfließenden Reichtum der staatlichen Kunstsammlungen in der Hauptstadt stehen auf dem Lande Kunstwerke gegenüber, die unerkannt oder doch unerschlossen schlummern.

Dem Forscher und dem Photographen muß jedoch ein Verlag die Hand reichen, soll Schönheit und Wert des Gegenstandes vor das Publikum hintreten, soll wissenschaftliches- Ergebnis und vertiefte Würdigung des unbekannten Kunstwerkes aus der Studierstube hinausgehen und zu einem weiteren Kreis von Kunstfreunden sprechen.

Im Falle der barocken ölberggruppe der Stadtpfarrkirche zu Ried im Innkreis war dieses Zusammenwirken in einer für die heutige Zeit seltenen Weise gegeben. So konnte in diesen Tagen eine Kunstmappe erscheinen, die ein Meisterwerk von einmaliger Bedeutung der Öffentlichkeit zugänglich macht.

Die lindenholzgeschnitzte Gruppe von Christus und Engel, Johannes, Petrus und Jakobus stand bis vor wenigen Jahren übermalt und nahezu unbekannt im Rieder Heimathaus. Hier hat ihr M a x B a u b ö c k, der Kustos der Sammlung, in seinem Museumsführer intuitiv eine würdige Kennzeichnung angedeihen lassen. Von ihrer falschen Ölfarbenfassung befreit, steht sie heute in ihrer reinen plastischen Form, zu einem Altaraufbau zusammengefaßt, in der Elendskapelle der Rieder Pfarrkirche, deren Außenchorwände sie vordem wohl durch Jahrhunderte geschmückt hatte.

Erstaunlich wenig ist über das Werk geschrieben, und dieses Wenige widersprechend, genug. Die bisherige Datierung schwankt zwischen 1725 und 1790, die Zuschreibung zwischen Johann Franz und Franz Jakob Schwanthaler. Beider Begründung überzeugt nicht restlos. Hat man vielmehr vor dem überwältigend eindrucksvollen Original einmal erkannt, daß nur die Jahrzehnte um 1700 unzweifelhaft als Entstehungszeit in Frage kommen — jene Hochblüte des Barocks, die Österreich einmal noch eine abendländische Vormachtstellung sichert —, dann ändern sich mit einem Male Blickpunkt und Perspektive. Die Gestalten der großen Bildkünstler Oberösterreichs und Salzburgs stehen auf: Meinrad Guggenbichler in Mondsee und Simeon Fries in Salzburg, Jörg Zürn der Jüngere im Attergau und die Meister der Legion von barocken Schnitzaltären und Heiligenfiguren in den Stiften, Klöstern und Pfarrkirchen des Landes. Ist das Werk autochthon, in Ried selbst von einem Rieder geschaffen, so rückt der Name Thomas Schwanthalers, des Begründers und zugleich des Größten der Dynastie (1634 bis 1707), in den Vordergrund. Doch bleibt daneben die Möglichkeit bestehen, daß hier ein unbekannter Großer am Werk ist, der alle seine Zeitgenossen und Mitstrebenden in der Holz- und Steinskulptur überragt. Mehr kann zur Meisterfrage augenblicklich nicht gesagt werden.

Große Vergleiche drängen sich auf. Michelangelos Pietägruppen in Florenz und Rom mit ihren sinkenden Körpern und hilfreich stützenden Trauerfiguren, in ihrem durchdringenden Ernst der Auffassung sind Christus und dem Engel de Rieder „Ölbergs“ geistesverbunden. Manieristische Kompositionsgedanken sind hier überlegen und vertiefend eingearbeitet. Berninis hl. Theresa und Lodovica Albertoni in Rom, großartig entrückte Liegefiguren in schweren ausdrucksvollen Faltenmassen, können irgendwie als Vorstufen des Johannes gelten. Schlüters tragische Größe in seinen sterbenden Kriegerköpfen zu Berlin erfährt ihr Widerspiel in dem Haupt des vom Traume gequälten Lieblingsjüngers.

Daneben besteht auch für dieses Werk des österreichischen Barocks jene unterirdische, doch höchst lebendige Verbindung zur Bildkunst der alpenländischen späten und spätesten Gotik. Ja, auch ein Wiederaufleben des Geistes deutscher spätstaufischer Plastik (um 1240 bis 1260) in unbewußten Rückgriffen läßt sich nicht leugnen.

Barocke Vielansichtigkeit, meisterliche räumliche Komposition eröffnen im Umschreiten und im Wechsel des Standpunktes stets neue Züge dieses Werkes. Seine Ausdruckskraft ergreift und packt unmittelbar. Ein unerschöpflicher seelischer und formaler Reichtum spricht sich in feinsten Differenzierungen aus. In dramatischer Art kündet diese Schöpfung von der Schwäche des Menschengeschlechts in den schlafenden Jüngern, von tiefster Verzweiflung des sinkenden Heilands, und, in österlicher Zeit doppelt eindrucksvoll, von der unerschütterlichen Stärke, die mit dem Engel von oben kommt, um das Innerste aufzurichten und zum bewußten höchsten Opfer zu befähigen.

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