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DURCH DIE SEELE DES WIENERS

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Ein Wiener entwickelt seine Meinung und begründe) sie. Der andere bringt hierauf eine ganz und gar gegensätzliche Meinung vor und stützt sie ebenfalls mit guten Gründen.

Wird daraus ein Streit entstehen? Werden sich die Gesprächspartner veranlagt fühlen, ihre Meinungen gegeneinander abzuwägen? Werden beide versuchen, in logischer Argumentation die Richtigkeit der eigenen und die Unrichtigkeit der anderen Meinung nachzuweisen?

Da es sich um Wiener handelt, werden sie nichts dergleichen tun. Vielmehr wird der eine, nachdem er die Meinung des anderen zur Kenntnis genommen und kurz bedacht hat, mit höchster Wahrscheinlichkeit nur jene drei einsilbigen Worte äußern, In denen alle Weisheit dieser Stadt beschlossen ist: „Is auch wahr...“ wird, er sagen.

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Die angewandte Relafivitätsphilosophie des Wieners kennt keine Unvereinbarkeit der Gegensätze, weil sie keine Gegensätze kennt: denn wenn das eine wahr und das andere auch wahr ist, kann es sich nicht um Gegensätze handeln, sondern höchstens um die Vorderseite und den Revers derselben Medaille. Allüberall mag das Gesetz von dem Raum gelten, den zwei Dinge nicht zur selben Zeit einnehmen können — in Wien gilt es nicht. Wien ist grofj und klein, alt und jung, Wien stirbt seit Jahrhunderten in Schönheit und gedeiht dabei sehr gut, Wien ist eine Weltstadt und das gröfjte Dort Europas, eine westliche Stadt am Rande des Ostens, Wien hat alles und ist alles und hat und ist von jedem zugleich auch das Gegenteil — Wien ist die Stadt der wollüstig gelebten Relativitäten.

Aber auch mit der Zeit hat's in Wien eine eigene Bewandtnis.

Dah die verbindliche Umgangssprache Österreichs, das Wienerische, kein Imperfektum kennt, mag es mit anderen Dialekten und Sprachen gemein haben. Bedeutsamer ist, dafj sich der Wiener auch dann der Mitvergangenheit enthält, wenn er sich infolge ungünstiger Bedingungen des Schriftdeutschen oder gar des Hochdeutschen bedienen mulj; wohl nirgends in der Welt müssen die Lehrer soviel Mühe aufwenden, wenn sie ihren Schülern die Imperfektformen der Zeitwörter beibringen wollen. Der Wiener ging also nicht durch die Zeiten und überstand dabei alles Ungemach, er ist vielmehr durch die Zeiten gegangen und hat dabei selbst die Heurigenfilme überstanden. Er lag nicht darnieder und raffte sich immer wieder auf, sondern er ist darniedergelegen und hat sich immer wieder aufgerafft. Und es interessiert ihn wenig oder gar nicht, ob sich dieses Darniederliegen und Auferstehen vor kurzer oder vor langer Zeit abgespielt hat, denn was nicht unmittelbare Gegenwart ist, ist in Wien auch schon der Vergangenheit anheimgefallen, wird schon ein wenig ungewiß, ist unbestimmbar geworden, ist endgültig vorbei.

„Es ist ein Unglück passiert...“ sagt der Wiener. Noch liegt das Krachen ineinander-fahrender Autos in der Luft, heulend sausen Rettung, Polizei und Feuerwehr heran, blutüberströmte Verkehrsopfer bedecken die Stratje — aber das eigentliche Unglück ist passiert, passe, vorbei, schon in die Vergangenheit gerückt. Was immer in Wien geschieht, ist auch schon geschehen — und darum wehrt sich der Wiener nicht sehr gegen die weifverbreitete Meinung, dafj er mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebe. Sie ist ja wahr.

Aber weil ihm die Gegenwart so schnell zur Vergangenheit wird, bleibt ihm wiederum die Vergangenheit etwas sehr Gegenwärtiges. In einer Wiener Vorstadtkirche steht auf einer Gedenktafel zu lesen; „Anno 1683 von den Türken zerstört, Anno 1688 wiederaufgebaut, Anno 1945 bombenbeschädigt, Anno 1951 wiederaufgebaut.“ Zwei-hundertseehsundsiebzig Jahre oder vierzehn Jahre — Vergangenheit ist Vergangenheit, aber deswegen noch lange nichts Totes. Das ist auch wahr.

In einer Stadt, die sich so souverän über normale Raum- und Zeitbegriffe hinwegsetzt, in der das Absolute so wenig und das Relative so viel zählt und die Beziehungen zwischen den Dingen wichtiger als die Dinge selbst sind, in einer solchen Stadt gewinnt selbst der Alltag bisweilen artistischen, spielerischen, jedenfalls aber einen recht ungewissen Charakter. Selbst auf den geborenen und gelernten Wiener wirkt Wien zu gewissen Zeiten wie ein leichtes Rauschgift, das ganz unzuverlässigerweise manchmal Euphorien, manchmal Melancholien hervorruft. Was immer man in Wien betrachtet, gleicht einem Bild im Kinderkaleidoskop — es sieht odentlich und solid aus, aber ein Wimperzucken - genügt und schon ist es passiert: das Bild ist zwar unwiederbringlich dahin, aber schon erstrahlt an seiner Stelle ein anderes.

Ist es ein Zufall, dah in der Wiener Literatur der Traum eine so häufige und wichtige Rolle spielt? Immer wieder taucht dieses Motiv auf: einer, der mit dem Leben unzufrieden ist, träumt von einem anderen Dasein — aber auch im Traum passiert ihm nichts anderes als dos, was ihm schon im Leben widerfahren wird. Denn zwischen Traum und Leben ist kein Unterschied, beide sind ein und dasselbe, Sigmund Freud hat es sogar wissenschaftlich bewiesen, was einem Wiener nach alldem ja auch wohl ansteht. Denn Wien ist die Stadt der Träume.

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