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Ein dokumentarisches Epos

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OHNE MASS UND ENDE. Roman. Von Wainda Bronska-Pampuch. R. Piper & Co. Verlag, München, 1963. 483 Seiten. P reis 19.80 DM.

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OHNE MASS UND ENDE. Roman. Von Wainda Bronska-Pampuch. R. Piper & Co. Verlag, München, 1963. 483 Seiten. P reis 19.80 DM.

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Der Roman „Ohne Maß und Ende“ gewährt nicht nur Einblick in die Entwicklungsphasen der kommunistischen Internationale seit den Tagen, da sich Lenin in der Schweiz aufhielt, bis zu den Säuberungsaktionen nach Stalins Tod, sondern er bringt auch die verschiedenartigen Methoden des Klassenkampfes und der Umerziehung zur Darstellung; ein breit angelegtes episches Werk, dem durch die Schilderung historischer Geschehnisse in einem Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren der Wert einer Dokumentation zukommt. Vor allem ist hervorzuheben, daß in einer Reihe von Einzelschicksalen fast alle nur denkbaren Auswirkungen des Kommunismus aufgezeigt werden. Der Epoche eines halben Jahrhunderts entsprechend, umfaßt der Roman den Kampf dreier Generationen um ein menschenwürdiges Dasein der Arbeiterklasse: Epos und politisches Drama in einem, gestaltet von Wanda Bronska-Pampuch. einer Frau, die auf Grund bitterer Erlebnisse erfahren hat, was es heißt, wenn jugendlicher Idealismus mißbraucht und jeder einzelne zu einem willenlosen Werkzeug herabgewürdigt wird.

Wanda Bronska-Pampuch wurde in der Schweiz geboren und wuchs in Warschau und Berlin auf. Nach ihrem Studium in Berlin und Moskau wurde sie zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt. 1948 kehrte sie über Polen nach Deutschland zurück und hat sich seither als Übersetzerin polnischer Literatur sowie als Publizistin einen Namen gemacht. Mit genialer Einfühlungsgabe dringt die Autorin, ohne sich jemals in Sentimentalitäten zu verlieren, ins Seelenleben derer ein, die sich in den Schweigelagern der Sowjetunion zu Tode arbeiten müssen.

Jadwiga, die Tochter eines Warschauer Arztes, studiert in Zürich, heiratet dort einen Freund Lenins, kehrt nach dem ersten Weltkrieg in ihre polnische Heimat zurück und flüchtet als kommunistische Agentin nach Rußland. Sie und ihr Mann fallen einer Säuberungsaktion zum Opfer, während ihre Tochter, Nina, nach Sibirien deportiert wird. Und dort, in einem Inferno der Unmenschlichkeit, findet Nina einen Gefährten und schenkt einem Mädchen namens Victoria das Leben. Sie muß sich sogleich von ihrem Kind trennen, das in einem Kindergarten aufgezogen wird. Trotz aller Bemühungen gelingt es Nina nicht, mit Victoria in Verbindung zu bleiben. Der Vater des Kindes findet ein tragisches Ende. Schließlich wird Nina nach Polen entlassen; von dort aus glückt es ihr, sich nach Westdeutschland durchzuschlagen. Victoria, die, seelisch verwahrlost, eine Zeitlang einer jugendlichen Verbrecherbande angehört, wird Fabrikarbeiterin. Ihre Heirat mit einem jungen Werktätigen befriedigt ihre bescheidenen Wünsche.

Bezeichnend für die Haltung der jungen Generation gegenüber den politischen Problemen, vor allem gegenüber den Forderungen und Richtlinien der Kommunistischen Partei, ist Victorias Ausspruch: „Wir wollen ein warmes Nest für uns und unsere Kinder bauen, denn sie sollen einmal anders aufwachsen als wir. Abenteuer und überhaupt Politik hassen wir, denn davon kommt alles Übel!“ Wie anders klingen diese Worte als die einstmals von kämpferischem Idealismus erfüllten Reden ihrer Mutter Nina, die im Schweigelager die tiefste Erniedrigung erfuhr, die aber auch erkennen mußte, daß es weder Frieden noch Freiheit geben kann, wenn die Würde des Menschen zerstört wird und die Erfüllung der Norm mehr bedeutet als Hekatomben von Menschenleben. Rückschauend sagt eine betagte Revolutionärin: „Die Macht, die ohne Maß und Ende uns niederzwingt in Not und Fron, wie wir alten Revolutionäre einmal gesungen haben, hat nur einen anderen Namen erhalten. Die Entwicklung beginnt von vorn — etwa da, wo Victorias Urgroßvater gestanden hat. Technisch bald auf dem Mond, sind wir kulturell menschlich immer noch hinter ihm.“

Nach einem Lageraufstand, ehe Panzer Hunderte von Männern, Frauen und Mädchen überrollen, finden sich die Häftlinge zu Gottesdiensten zusammen, und in Augenblicken grenzenloser Verlassenheit entringen sich den Gefolterten Worte, die ihnen einst die Mutter beim Abendgebet vorgesprochen hat.

Mit der Kraft dichterischer Aussage erschließt dieses Werk Abgründe der menschlichen Seele. Nichts wird beschönigt, nichts verniedlicht; gewiß, keine Lektüre für zartbesaitete Gemüter, aber ein Menetekel für alle, die im Materiellen das Maß aller Dinge sehen.

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