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Ein Film — ein Menschenleben

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In einer Sondervorführung der Französisch-Österreichischen Gesellschaft wurde nun Wien endlich mit dem französischen Spitzenfilm „M onsieur Vincent” bekannt. Höchste Preise (Grand Prix de Cinema 1947, Paris, und 1. Preis für den besten Darsteller auf der Biennale Venedig 1947) schmücken ihn, mehr: die Ergriffenheit des Publikums, das sich unter seiner Wirkung aus einer gestaltlosen Masse zu einer Gemeinde persönlich angesprochener Menschen wandelte. — Hier wird eine letžte Möglichkeit des Films, dem sooft ein beträchtlicher Anteil an der Förderung des modernen Vermassungsprozesses vorgeworfen wird, sichtbar: mitzuwirken an der Realisierung der kostbarsten und größten Möglichkeit dieser unserer Welt von heute — aus Schablonen, Nummern, gewissenlos lebenden Menschkörpern werden wieder Personen, ihrer Schuld und Größe bewußte Individuen! „Monsieur Vincent” erreicht diese Wandlung durch seine großartig offene und zugleich diskret verhaltene direkte Ansprache. Zwei Stunden lang spricht uns dieser Vinzenz von Paul (Pierre Fresnay) an: mit seinen Händen, mit seinen Augen (oh, wie sind sie in Trauer gehalten über das, was sie an und in uns sehen!), mit jeder seiner Bewegungen, jeder seiner Taten!

Von Vincent de Paul, dem Heiligen des modernen Tatlebens, stammt das Wort: „Lieben wir Gott, aber auf Kosten unserer Arme und im Schweiße unseres Angesichts.” Der historische Vincent, welch ein Vorwurf! 1581 als Sohn einer kinderreichen Bauernfamilie in einem der arg geplagten Landflecken Frankreichs geboren. Hirt der Herde seines Vaters. Sklave in Tunis (16C7). Jahre entsetzlicher, verzehrender Glaubenszweifel und Seelenqualen. In Paris trifft ihn die Gnade: Gelübde, sein Leben der tätigen Nächstenliebe zu weihen. Vincent wird der Apostel der neuzeitlichen Karitas. 1617 gründet er in Ghatillon-les-Dombes die erste weibliche Karitasbruderschaft; Armen- und Krankenpflege, Seelsorgehilfe sind ihre Aufgaben. 1620 folgt in Folleville das männliche Gegenstück. In Marseille (das heute wieder ein Zentrum moderner christlicher sozialpflegerischer Tätigkeit ist) errichtet er ein Kranken- und Pflegehaus für die Galeerensträflinge, deren Oberpfarrer er seit 1619 ist. Gründungen karitativer Bruderschaften und Bewegungen fließen aus seinen arbeits- und gnadenreichen Händen: die Lazaristen (Vinzentiner), die Barmherzigen Schwestern. … Vincent wird der erste Heilige des modernen Großstadt- und Massenelends. In Paris organisiert er die Armen-, Kranken-, Findelkinder- und zuletzt Flüchtlingsfürsorge (für die aus Lothringen vertriebenen Kriegsopfer). Dieser Heilige ist aber nicht nur der Erfinder des ersten Eintopfgerichts (der panade), das er in seinen Volksküchen ausschenkt, sondern zugleich der Seelenfreund, Berater und Lehrer der feinsten Blüten an dem in diesen Jahrzehnten wundersam aufsprießenden geistigen Baum Frankreichs: einer Franziska von Chantal, eines Franz von Sales, eines Bossuet… in die Thomaskirche übertragen. Das zerbombte Geburtshaus des Tondichters in Eisenach soll in seiner ursprünglichen Form wieder hergeteilt werden.

Aus der spannungsgeladenen Fülle und Buntheit dieses Lebensfilms des 17. Jahrhunderts schneidet der Film des 20. Jahrhunderts in kluger Selbstbescheidung eine Teilansicht heraus, die er in meisterlicher Plastizität und Geschlossenheit eindringlich vorführt. Pierre Fresnay als Vinzenz von Paul ist in dem von Maurice Clodhe nach dem Drehbuch des bekannten modernen Dramatikers Jean Anouilh geschaffenen Filmwerk ein franziskanischer Heiliger eines nüchtern-starken Tatchristentums, das sich in zwiefacher Flamme verzehrt: nach innen brennend im Dienste Gottes, nach außen verbrennend im Dienst der Menschen … Ein Heiliger der Schlichtheit, der geraden, unbedingten Hingabe an die einmal erkannte Sendung: zu dienen den Armen — „meinen Brüdern, meinen Herren; sie sind oft hart, ja grausam, eigenwillig, störrisch, schwer zu behandeln; um so mehr aber muß ich, müssen wir ihnen dienen…” — Illusionslose Hingabe an die Menschen, an eben diese bresthaften schuldig-böisen Menschenkinder dieser Welt. — Großer, echter, christlicher Realismus dieses Films — seine größte Stärke. Diese Armen sind noch reich an Lasterhaftigkeit und Bürde des Menschlich Allzumenschlichcn — und diese Reichen, die über der Sorge um „Frankreich” die Sorge um seine schwächsten Kinder vergaßen, sie sind arm; kleine Menschen, schwach. Zu schwach oft, um Monsieur Vincent helfen zu können, helfen zu wollen … — Erschütternde Zeichnung’ der Menschheit, wie sie eben ist: keiner dieser Seigneurs, Grafen, Barone und Generale, keine diesfer vornehmen Damen der höchsten Gesellschaft ist an sich ganz schwarz, ganz böse versebattet gezeichnet, sie alle sind auf ihre Art noch Hebens-, zumindest anerkennenswerte Naturen, die wir oft nur zu gut verstehen können. Zwischen ihrer geschäftigen Liebenswürdigkeit, Weltklugheit, zwischen ihrem gesunden Menschenverstand und ihrer politischen Räson tut sich aber der Abgrund auf: in ihm ruht unruhig das unsägliche Leid der Massen, der Vergessenen, Entrechteten, Verlorenen dieser Erde. — Vincent liebt, mitleidet beide: den verhungerten Bettler, der in der Kotstraße von Paris zusammengebrochen ist, und Anna Maria, die Königin-Witwe von Frankreich; dies das Verdienst, die Sendung dieses Films: eindeutig aufzuzeigen die Herrlichkeit, das heißt die Strahl- und Reichweite eines autochthon christlichen Lebens: allein allumfassend birgt es die Größe und das Elend (Grandeur et misere de l’homme, wie der große Z e i t g e mo sse Vincents, Pascal, sagt) des Menschen, wie er eben ist — 1609, 1648 und 1948 —, herein in die Bannkraft seines Innenraumes. Monsieur Vincent war das warmleuchtende (Sestirn einer lichtlosen kalten Zeit — etwas von dieser Wärme glutet uns aus den Augen Pierre Fresnays an — und aus dem Geist, in dem dieses Kunstwerk geschaffen wurde; dieses Kunstwerk im Dienst der Veredelung, der Verpersönlichung des Menschen. Wie viele Filme dürfen dieses Prädikat für sich in Anspruch nehmen?

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