Ein Leben in 12 Tagen

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Erfolgsautor Eric-Emmanuel Schmitt betritt mit seiner Erzählung "Oskar und die Dame in Rosa" - soeben auf deutsch erschienen - ein heikles Terrain. von sylvia m. patsch

Der 43-jährige französische Autor Eric-Emmanuel Schmitt hat im Frühjahr 2003 mit seiner berührend-komischen Erzählung "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" seinem Schweizer Verleger einen Bestseller beschert. Der Ammann Verlag setzt innerhalb eines Jahres jetzt zum zweiten Mal auf den in Frankreich höchst erfolgreichen Schriftsteller, wieder mit einer "Kinder-Geschichte": "Oskar und die Dame in Rosa". Sie dürfte den Erstling noch übertreffen, besitzt doch die Geschichte eines an Leukämie sterbenden Buben eine Sogkraft und einen Einfall, der an Dramatik und Komik unüberbietbar scheint: Die Idee, nicht dem Tod ein Schnippchen zu schlagen, sondern dem Leben in zwölf Tagen eine Gasse zu hauen.

Hymne an das Leben

Schmitt schafft aus einer tragischen Situation eine Hymne an das Leben. Er erzählt die Geschichte aus dem Blickwinkel eines 10-Jährigen. Schnoddrig, frech, völlig unsentimental. Im Spital rät ihm eine alte Frau, die einmal in der Woche kranke Kinder besucht, an Gott zu schreiben. Das ohne Religion erzogene Kind lässt sich überzeugen. Wenn die Eltern schon so feige sind und gegenüber dem Sohn schweigen, obwohl er längst gemerkt hat, wie es um ihn steht, könnte vielleicht Gott helfen, meint "Oma Rosa": "Vertrau ihm deine Gedanken an. Gedanken, die man nicht ausspricht, machen schwer. Das sind Gedanken, die sich festhaken, dich belasten und dich erstarren lassen, Gedanken, die den Platz wegnehmen für neue Ideen und in dir verfaulen. Du wirst zu einer Müllhalde voller alter Gedanken, die zu stinken anfangen, wenn du sie nicht aussprichst." Zwölf Tage hat der Bub noch zu leben, und er bittet Gott, jeden Tag zu zehn Jahren zu machen. So erlebt er ein überlanges Leben: Eine stürmische Jugend, Verantwortung in der Mitte des Lebens, das Alter - und stirbt friedlich, ohne das Gefühl, das Leben habe ihn betrogen.

Das Geniale an Schmitts Parabel vom Leben ist die absolut getroffene Balance von - äußerlich gesehen - tragischem Geschehen und der Erfüllung, die diesem kleinen Menschen zuteil wird. "Oma Rosa", einst Freistilringerin, mutig, lenkt mit losem Maul das Kind behutsam hin zur Erkenntnis vom rechten Leben. Große Gedanken in einfacher Sprache. Wozu gibt es Schmerzen, fragt das Kind. Anhand einer Christusfigur am Kreuz, die zwar Wunden, aber kein schmerzverzerrtes Gesicht hat, erklärt "Oma Rosa": "Man muss unterscheiden zwischen zwei Arten von Schmerz, dem körperlichen und dem seelischen Schmerz. Den körperlichen Schmerz hat man zu ertragen. Den seelischen Schmerz hat man sich selbst ausgewählt." Das Kind will nicht sterben. Und es begreift: "Der Gedanke daran, sterben zu müssen, verdirbt das Leben." Auf die tiefsten Fragen gibt die alte Frau bestechend klare Antworten: "Warum lässt Gott es zu, dass man krank wird? Entweder er ist böse. Oder er ist eine Flasche." "Oskar, eine Krankheit ist wie der Tod. Das ist eine Tatsache und keine Strafe." Schließlich verrät Gott dem Kind, das in wenigen Tagen ein ganzes Leben gelebt hat, das größte Geheimnis: "Schau jeden Tag auf diese Welt, als wäre es das erste Mal."

Gratwanderung

Eine Gratwanderung ist dieses Buch zweifellos: Ging es Schmitt in "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" um Toleranz zwischen den Religionen, greift er in seiner neuen Erzählung philosophische und religiöse Themen auf, die Bibliotheken füllen. Was ihn vor dem Absturz in eine billige Pseudo-Heilslehre rettet, ist eine vollkommen eigenständige Sprache und seine Ironie, die Weisheiten nie bleifüßig daherkommen lässt. 100 Seiten, an einem Abend zu lesen, unvergesslich.

Oskar und die Dame in Rosa

Erzählung von Eric-Emmanuel Schmitt

Aus dem Franz. von Annette und Paul Bäcker, Amman Verlag, Zürich 2003 104 Seiten, geb., e 14,40

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