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Eine deutsche Tragödie

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Die deutsche Demokratie hat einen schweren Verlust erlitten, dessen Folgen noch unabsehbar sind: durch den Tod Kurt Schumachers, eines Mannes, der sie nicht selten gefährdet hatte in den großen politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre — durch seine Intransi- genz, seine Haßleidenschaft, durch seine Demagogie, seinen sich immer noch steigernden Appell an die Instinkte der Massen, wobei er nicht scheute, sich des Schlagwortarsenals jenes Gegners zu bedienen, der ihn die zehn besten Jahre seines Lebens in das „Lager" zwang.

„Er war ein Mann, der allen ein Vorbild bleiben wird in der unerschütterlichen Treue gegenüber dem, was er für seine Partei und das deutsche Volk als richtig und notwendig erkannt hatte.“ So sein großer innenpolitischer Gegner, Doktor Adenauer. „Schumacher übte unter seinen Leuten eine Art geistigen Königtums aus." So ein bekannter österreichischer Konservativer, der mit ihm im KZ zu- sämmehtraf. „Er ist in jedem Sinn ein überlebender." So der führende sozialistische Publizist Österreichs. Drei Sätze, drei Aussagen, die die Tragik dieser politischen Persönlichkeit umreißen. Dieser preußische Offizier hatte einen Arm dem alten Staat, ein Bein der neuen „Bewegung“ geopfert: diese Verstümmelungen etanhen ihm ins Gesicht geschrieben, als ein Zeichen dafür, daß er alles, seinen geschundenen Leib, sein Herz, seinen Geist, alles einfach, was an ihm war, hingegeben hatte, im Kampf für, um sein Volk. Wer auch nur einmal in seiner Nähe weilte, mit ihm sprach, mußte es, wenn ihm nicht Angst und Beklemmung den Sinn verwirrten, sehen: hier litt einer um sein Volk, um dessen „Dumpfheit", „Dummheit", „Einsichtslosigkeit", „Feigheit", „Trägheit“, „Vergeßlichkeit" wie nur ein Prophet, eine Kassandra, zumindest wie deren säkularisierte Nachfahren, der Dichter, der intellektuelle Mahner und Rufer inder Wüste.

Als ein Rufer in der Wüste einer Zwischenwelt, gegen die „Charakterlosig-

keit", „Kurzsichtigkeit" und „Verblendung" weitester Kreise seines Volkes, erlebte, verstand Schumacher sich selbst. Wer ihm einigermaßen gerecht werden will, muß dies sein Selbstverständnis berücksichtigen — seine stete Angst also, daß „sein Volk“ aufs neue dem „Appell an den inneren Schweinehund“ erliegen werde, wie 1933 — ein Jahr zuvor hatte er in einer Reichstagsrede mit eben diesen Worten die Versuchung des Nationalsozialismus gezeichnet. Die Versuchung, „sich um ein Linsengericht zu verkaufen“, um ein Linsengericht und eine Handvoll gefährlicher Phrasen von Sicherheit, Ruhm und Ehre und nationaler Größe. Dieser selben Versuchung wähnte nun Schumacher aufs neue das deutsche Volk zu erliegen — durch die Annahme der Politik Adenauers und des Generalvertrages. Ohne Zweifel: hier wurde Schumacher innerlich überwältigt durch das große Trauma seines Lebens, mit dem er nicht „fertig" wurde, nicht fertig werden konnte, weil es seinen Wesenskern zutiefst Versehrte: wie konnte dieses große deutsche Volk, dieses Volk von Arbeitern und Denkern, nur einer solchen Simpläfikation komplizierter politischer Probleme erliegen — damals durch Hitler und Goebbels, und jetzt, wie er zu ersehen glaubte, durch die Westpolitik der Bonner Regierung?

Schumacher konnte mit dieser seiner Versuchung — Adenauer und die

Bonner Welt im Lichte Hitlers zu sehen

— nicht fertig werden, weil er selbst ein glühender deutscher Nationalist (wie nur eh und je einer aus der alten Garde des deutschen Sozialismus seit den Tagen Lassalles!) war und dazu ein „Prof esso r", im Wortsinne, ein Bekenner seines Denkens, seines Systemdenkens, der also sein Leben gibt für die Einheit von „Theorie" und Praxis, von Tun und Sein, von Tat und Gedanke (wie nur selten, seit der Zeit der Göttinger Sieben, ein deutscher Professor). Also mußte er gefangen bleiben in seiner Vergangenheit, in den Verwundungen seines Lebens, in der Zelle seines Denkens. Von hier aus versteht sich die Enge und Verklommenheit seines faktischen politischen Wirkens nach 1945, ebenso aber auch die ungeheure Faszination auf die Massen. Nicht zuletzt auf die Arbeiterschaft des deutschen Ostens.

Die Schulungskurse der DDR, der „Deutschen Demokratischen Republik", zielten immer wieder auf seinen Kopf hin: ohne Zweifel war er der westdeutsche Politiker, der im deutschen Osten besonders ernst genommen wurde. Emst in einem existentiellen und in einem politischen Sinne wie kein „bürgerlicher" Politiker im Dunstkreis Bonns.

— Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Jugoslawiens wußte, was es tat, als es als einziges Zentralkomitee einer kommunistischen Partei der Welt, zu seinem Tode kondolierte. Hier war der Mann gestorben, der, neben Tito, der wirkmächtigste Antipode Moskaus in Europa im Raum des Sozialismus gewesen war. Das ist Kurt Schumachers geschichtliche Leistung: er hat es durch den Einsatz seiner Person vermocht, daß die überwältigende Mehrheit der deutschen Arbeiterschaft in Ost und West nach 1945 sich gegen jede Art von Bündnis oder Zusammenarbeit mit dem Weltkommunismus entschied. Hier trog ihn die überschärfe seines Blicks nicht: der

Volkstribun wußte, was das Ende jeder Volksherrschaft bedeuten mußte, Die Lagerwelt der Volksdemokratien sah er im Lichte jener Lager, denen er selbst nach mehr als zehn Jahren verstümmelt entrann.

Der Volkstribun Schuhmacherl Größe und Grenze der Demokratie im Heute werden an seiner Gestalt sichtbar: die Dämonie, die geballte Willenskraft seiner herrscherlichen Persönlichkeit sprengte durchaus jene Beschränkung,

IN APOTR U. DROG.

die die Demokratie von jenen verlangen muß, die ihr an erster Stelle dienen wollen. Ein-Herrsdiaft, Monokratie, wenn auch nicht unbedingt Alleinherrschaft, stand auf der Stirne dieses Mannes, dem, nicht nur in seiner Partei, wenige wirklich entgegenzutreten wagten. Zum andern aber: Demokratie lebt nur so lange, als es Persönlichkeiten gibt, in denen ein Ethos des Politischen brennt, ein hohes, reines und verzehrendes Feuer, das auch zum letzten Opfer bereit ist, wie in Kurt Schumacher. Deshalb bleibt das Paradoxon bestehen, von dem bereits im Eingang dieses Gedenkens die Rede sein mußte: die deutsche Demokratie hat einen schweren Verlust erlitten durch den Tod eines Mannes, dessen Persönlichkeit, Wucht und Wille sie zugleich gefährdet, zugleich bestätigt und getragen hatte. Mitten in den Fragwürdigkeiten unserer Zeit und seiner eigenen Erscheinung hatte Schumacher ein Beispiel, ein Vorbild gegeben: wie bitter ernst, wie tragisch und nicht einer echten Größe entbehrend ein Leben sein kann, das dem Kampf um eine Demokratie gewidmet war.

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