Nir Baram - © Fotos: Privat

„Erwachen“ – Nir Barams neuer Roman

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Wer dieses Buch liest, ist genötigt, im Angesicht der Welt tatsächlich zu erwachen, meint Erich Klein. Der Coming-of-Age-Roman erzählt zugleich ein Stück israelischer Geschichte.

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Wer dieses Buch liest, ist genötigt, im Angesicht der Welt tatsächlich zu erwachen, meint Erich Klein. Der Coming-of-Age-Roman erzählt zugleich ein Stück israelischer Geschichte.

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Panik durchzuckt den Schriftsteller Jonathan, als er nach Abschluss eines Literaturfestivals in einem verwüsteten Hotelzimmer in Mexiko aufwacht. War es ein Traum, was ihm da eine junge Frau in der vergangenen Nacht im Rausch zuflüsterte – sein bester Freund sei gestorben?

Nir Baram entfaltet in seinem Roman „Erwachen“ ein anfänglich verwirrendes, dann immer bedrohlicher werdendes Spiegelspiel der Identität; die Verwandlung von Glück in Unglück, von Leben in Tod bricht lawinenartig in sprachlich wilden Tiraden über Protagonist und Leser herein. Im Zentrum des Coming-of-Age-­Romans aus dem Israel der 1980er und 1990er Jahre stehen zwei Verluste: der Tod von Jonathans Mutter und der Selbstmord des Freundes Joël.

Israel, viviseziert

Das populäre Genre der Autofiktion wäre für den 1976 in Jerusalem geborenen Nir Baram vermutlich ein zu simples Verfahren gewesen, um den schmerzhaften Übergang von Kindheit zum Erwachsenen-Dasein literarisch zu verarbeiten. Dafür hatte der heute 44-jährige ­Shooting-Star der israelischen Literatur schon zu viel Welt, Geschichte und Politik in komplexes Buchmaterial verwandelt. Auf sein fantastisch-surreales Romandebüt „Der Wiederträumer“ (2009) mit Schauplatz Tel Aviv, in dem einer die Träume seiner Mitmenschen regelrecht zu lesen versteht, folgte mit „Gute Leute“ (2012) ein opulentes Erzählpanorama – banal böse Opportunisten machen in den Imperien von Hitler und Stalin steile Karrieren; in „Weltschatten“ (2016) demontierte er am Beispiel von Börsenspekulanten und Friedensaktivisten, die zu Waffenhändlern mutieren, das gegenwärtige Israel der Globalisierung.

Auch journalistisch hatte sich der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Nir Baram längst zwischen alle Stühle gesetzt – in seinem Reportage-Band „Im Land der Verzweiflung. Ein Israeli reist­ in die besetzten Gebiete“ (2016) erteilte er allen frommen Wünschen nach einer einfachen Zwei­-Staaten-Lösung des Palästinenser-Konfliktes eine rigorose Absage.

Mit dem Roman „Erwachen“ bricht er folgerichtig in die eigene Biografie wie in einen fremden Kontinent auf, um in einem Atemzug auch das ganze Land am lebendigen Leib zu vivisezieren.

„Die Vergangenheit liegt noch vor uns“, denkt Jonathan, der mit einer Schreibblockade hadert, unkontrolliert in seinen Laptop hämmert, während er an seinen jungen Sohn denkt, sogleich alles wieder löscht, er wiederhole sich ja nur noch selbst. Um ans „Ende der Nacht“ zu gelangen, wie der Roman im Original heißt, muss alles von Neuem aufgerollt werden.

Idyllische Jugendzeit

Im Unterschied zu den großen Wendepunkten der israelischen Geschichte wie Staatsgründung oder Sechstagekrieg ist es eine verhältnismäßig friedliche „kleine“ Zeit, in der Jonathan und Joël, beide Mitte der 1970er Jahre geboren, im bürgerlichen Bezirk Beit Hakerem im Südwesten Jerusalems aufwachsen. Sie treiben sich in den damals noch nahegelegenen Wäldern herum, in der Nähe befindet sich ein Rüstungsbetrieb; es gibt Straßenschlachten und „schmutzige“ Spielchen mit gleichaltrigen Mädchen, bei denen Jonathan sich immer schamhaft zurückhält, Pornoheftchen kursieren. Jonathan und Joël haben sich ein Königreich der Fantasie geschaffen, das sie als „Welt der Türme“ bezeichnen; ein irgendwie unheimliches, zugleich aber auch unverbrüchliches Imperium der Freundschaft, das erst zerfällt, als einer der beiden die Clique wechselt.

In Zeitsprüngen zwischen den 1980er und 1990er Jahren erfahren wir von der teilweise jemenitisch-jüdischen Vorgeschichte von der Familie Jonathans, der sich anders als der Sonnyboy Joël im Gestrüpp jugendlicher Verliebtheit in diverse Mädchen lange nicht zurechtfindet. Dass es sich bei Beit Hakerem um ein Paradies handelt, das es zu verlassen gilt, wird schrittweise immer deutlicher. Jonathan beginnt gegen die Welt seiner Herkunft, in der sich die Menschen „zur Mittagsruhe gemütlich auf dem Balkon räkelten und immer über zu viel Lärm klagten“, aufzubegehren. Am Schabbat fährt er mit Freunden am liebsten in die Wüs­te und dröhnt sich mit Pop und Punk zu. Mit einer im Bezirk auftauchenden Horde israelischer Soldaten, die gerne Araber verprügeln, werfen Libanon-Krieg und die beginnende Intifada erste Schatten auf die noch immer unbekümmerte Idylle.

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