Flucht auf die Dächer

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"Heuschrecken": Der neue Roman von Barbara Vine lässt das Krimi-Genre weit hinter sich.

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"Heuschrecken": Der neue Roman von Barbara Vine lässt das Krimi-Genre weit hinter sich.

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Nicht so im Rampenlicht wie Ingrid Noll oder Donna Leon, aber bereits auf den deutschen und englischen Bestsellerlisten, schreibt die englische Autorin Ruth Rendell unter dem Pseudonym Barbara Vine ungefähr alle zwei Jahre einen neuen Krimi, in dem es um die Abgründe des modernen Wohlstandsmenschen geht. Diesmal begleitet sie fünf Jugendliche in einem Londoner Vorort bei ihren verzweifelten und gefährlichen Versuchen, sich im Leben zurechtzufinden.

Scheinbar zufällig treffen sie einander: Silver, der Sohn reicher Eltern, der durch eine Erbschaft immer über Geld verfügt und die Wohnung im Dachgeschoß zur Verfügung stellt. Liv, das schwedische Au-pair-Mädchen, das alkoholisiert, die Kinder der Gastfamilie im Auto, einen schweren Unfall verursachte und in Panik davonrannte. Johnny, der brutale Schwarze, der Parkometer knackt und Wohnungen plündert. Wim, mysteriös und schön, der auf die Dächer klettert und nur dort das Leben erträgt. Und Clodagh, die als verbummelte Studentin in der Wohngemeinschaft landet, nachdem sie aus ihrem Zimmer hinausgeflogen ist. Sie blickt als Erwachsene mit dem seltsamen Beruf einer selbständigen Elektrikerin auf ihre Jugend zurück, mit dem fröstelnden Grauen, noch einmal Glück gehabt zu haben.

Das Mädchen Clodagh lebt in der Provinz und entwickelt, von den Eltern mit allen Hoffnungen auf ein besseres und leichteres Leben für das einzige Kind belastet, ein seltsames Hobby: sie klettert auf Bäume, immer höhere Bäume und schließlich auf Strommasten, die für sie wie große Heuschrecken in den Feldern stehen. Der Enge des Elternhauses, den Ratschlägen und dem Alleinsein entkommt sie in schwindelnde Höhen und niemand merkt etwas davon. Nach einem schweren Unfall, bei dem ihr einziger Freund und Vertrauter mit 16 Jahren in den Stromkreis gerät, muss sie das Dorf verlassen. So beginnt ihre Odyssee in London, einer fremden, gefährlichen Welt.

Sie klettern über Dächer und erkunden nachts die Stadt aus dieser Perspektive. Johnny nützt seine Kletterkünste, um in Wohnungen einzusteigen, die anderen genießen den Kick, die Stille, die Sterne und das gefährliche Anderssein. Während sie den Alltag mit Erwachsenen-Vorwürfen und Schulpflichten äußerlich unauffällig bewältigen, sind es die Nächte, in denen sie unruhig werden, die sie hinauslocken und Raum und Zeit vergessen lassen. Aus dem gefährlichen Spiel wird tödlicher Ernst, als sie in jugendlichem Übereifer einer untergetauchten Familie mit einem entführten Kind helfen wollen. Das Gefühl, einer gerechten Sache zu dienen, lässt sie vergessen, dass es Gesetze und Regeln gibt. Auch wird die Idylle der Wohngemeinschaft von Spannungen zerrissen. Mit Liebesbeziehungen und Besitzansprüchen bricht das Erwachsenenleben herein.

Der gewaltsamen "Reinigung", die nicht für alle Beteiligten glimpflich ausgeht, folgen Besinnung, Ausbildung und schließlich das Erlernen eines verantwortungsbewussten Erwachsenenlebens.

Die ganze moderne Gesellschaft steht unter Hochspannung, was Barbara Vine auch sprachlich vermittelt. Diese Hochspannung ist für manche junge Menschen einfach zuviel. Clodagh hat einmal im Leben die "Hochspannung" unterschätzt. Nun lernt sie zum Entsetzen ihrer Eltern als Elektrikerin, mit gefährlichen Spannungen umzugehen.

Der Rückblick der erwachsenen Frau ist mit so viel Einfühlung in jugendliche Ausweglosigkeit, Zerrissenheit und verzweifelte Suche nach Sinn und Halt geschrieben, dass die Krimi-Handlung in den Hintergrund gerät. Die Jugendlichen wachsen einem ans Herz. Die Erwachsenen erscheinen kalt, oberflächlich, schrullig und verrückt. Die Jungen tun bloß verrückte Dinge, um auf ihre ernsten Fragen nach Wofür und Wie des Lebens lebbare Antworten zu finden. Sie haben sich die Welt, in die sie hineingeboren wurden, nicht ausgesucht, nicht die Beziehungsprobleme ihrer Eltern, nicht deren Jobsorgen und Besitzansprüche an ihre Kinder.

Sie sehen sich einem Wust unverständlicher Pflichten und Anstandsregeln, die von den Erwachsenen selbst nicht eingehalten werden, Sehnsüchten, die von den Erwachsenen nur noch verleugnet werden und Zukunftsperspektiven konfrontiert, die ihnen wenig erstrebenswert erscheinen. Nur auf den Dächern ist die Freiheit noch grenzenlos. Da braucht man sportliches Geschick, totale Aufmerksamkeit, lernt man die Angst vor Entdeckung, das Grauen vor wackligen Dachziegeln und das Glück der Heimkehr kennen. Und das Gefühl, der ganzen Stadt tatsächlich überlegen zu sein. Außergewöhnlich und mysteriös. Was kümmert sie das Gestern, was das Morgen. Eltern, alte Freunde, Lehrer - wer sind die und was hatten sie je mit ihnen zu tun? Die Leichtigkeit ist trügerisch, doch sie erweist sich für die, die das Abenteuer überleben, als tragfähige Basis für ihr weiteres Leben.

643 Seiten lang hält Barbara Vine Neugier und Spannung aufrecht. Klar, authentisch und nachvollziehbar zeichnet sie ihre Figuren. Schonungslos blickt sie von den Dächern in die hellerleuchteten Wohnungen der Wohlstandbürger, hinter die Fassade ihrer Lügengebäude. Ein großer Krimi, der ohne Zeigefinger, doch Hoffnung gebend und Jugendlichen Entwicklung zubilligend, auch wenn sie hart am Rande der Kriminalität dahinklettern, das Risiko und die Last des Erwachsenwerdens dramatisch und spannend verdeutlicht.

Milena Jesenska, die im KZ umgekommene Autorin, der Franz Kafkas "Briefe an Milena" galten, schrieb: "Niemals möchte ich wieder sechzehn Jahre alt sein. Durch welches Wunder habe ich das eigentlich überlebt?"

Heuschrecken Roman von Barbara Vine, Übersetzung: Renate Orth-Guttmann, Diogenes Verlag, Zürich 2001, 643 Seiten, kt., öS 342,-/e 24,88

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