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Kommune als Symptom

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Erschreckt wird so mancher sein, der vom Wachsen der Kommunen in der heutigen Gesellschaft hört. Kommunen, das sind nach landläufigem Begriff lockere Gemeinschaften, in der sich junge Menschen, Frauen wie Männer, zusammenfinden, um ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Der normale Zeitungsleser glaubt zumeist, daß diese Kommunen entstehen, um zwischen mehreren Ehen einen leichteren Partnertausch zu ermöglichen, er denkt an das traurige Schicksal der Kinder aus solchen Kommunen, die kaum noch wissen, wer der eigentliche Vater oder die eigentliche Mutter ist, er wird Rauschgiftorgien vermuten, von denen er manchmal in Zusammenhang mit diesen Kommunen gehört hat, oder er wird sicher sein, daß diese Kommunen die Zellen politischen Gangstertums sind. Aber an der Existenz dieser Kommunen einfach verdammend vorbeizugehen, wäre sinnlos. Wenn einen Menschen ein Fieber überfällt, dann hat es keinen Sinn, ihm nur Mittel zu geben, die das Fieber herunterdrücken. Der gute Arzt wird nach den Gründen suchen, die das Fieber entstehen lassen. Dieses gleiche Prinzip müßte auch im Fall der Kommunen angewendet werden. Denn sie sind ein deutliches Zeichen, daß in unserer Gesellschaftsordnung vieles nicht stimmt.

Kommunen, allerdings unter anderen Bezeichnung, hat es immer gegeben. Ein Clan, eine Sippe, eine Großfamilie ist schließlich nichts anderes als eine Art Kommune. Noch bis ins späte 19. Jahrhundert bildeten die Familien der Hocharistokraten, der Bauern, aber auch der Bürger eine Art Clan, also einen Familienverband, dem alle näheren und weiteren Verwandten angehörten. Diese Großfamilien erwiesen sich als ein viel besserer Versicherungsschutz als alle Versicherungsgesellschaften der heutigen Zeit. Es wäre undenkbar gewesen, daß die einzelnen Mitglieder eines solchen Clans einen Verwandten hätten „hängen“ lassen und nicht immer wieder versucht hätten, ihn vor den Umbilden der Welt zu schützen.

Der heutige junge Mensch wächst kaum noch in einer echten Familie auf. Im Gegenteil: vielen jungen Menschen wird heute ihre Kindheit und Jugend im Rückblick als ein Trümmerfeld erscheinen. Die Ehen ihrer Eltern, ihrer Großeltern waren vielfach gescheitert. Und wenn sich die Eltern schon nicht scheiden ließen, sondern zusammenblieben, dann war dieses Beisammenbleiben belastet mit vielen häßlichen Szenen. So kommen die meisten Jugendlichen der heutigen Zeit aus einer Umgebung, die ihnen nichts anderes mitgeben konnte als das Bild der Zerstörung. Allen diesen Jugendlichen fehlt der Glanz einer schönen Kindheit, fehlt die Wärme einer guten Ehe. Durch die Streitigkeiten ihrer Eltern werden ihre kindlichen Nerven so belastet, daß sie schon als Nervenbündel ins Leben treten. Sie kommen aus einer Welt, die keine Geborgenheit mehr kennt. Nicht nur die Eltern kümmern sich nicht um sie, es gibt auch keine Großfamilie mehr, die sie auffangen könnte. Und so packt diese Jugendlichen selbstverständlich auch das große Problem unserer heutigen Zeit: die Einsamkeit

Diese Einsamkeit hat für den heutigen Menschen etwas furchtbar Bedrückendes. Er fühlt sich völlig verlassen, denn es gibt auch tatsächlich kaum noch ein Band, das nahe Verwandte verbindet. Niemand kennt noch den Nachbarn, neben dem er vielleicht Jahrzehnte wohnt. Niemand kennt genau den Menschen, neben dem er durch Jahrzehnte im Büro oder an der Arbeitsstätte wirkt. Niemand kümmert sich vor allem um die alten Menschen.

Der heutige Mensch versucht deshalb unaufhörlich, dieser Einsamkeit zu entfliehen. Einer dieser Versuche ist das ständige Herumwandern. Der junge Mensch von heute lebt vielfach wie ein Nomade, der von Ort zu Ort zieht. Er lebt wie ein Nomade mehr oder minder in Zelten. Nicht nur in riesigen Zeltstädten auf den schönsten Plätzen der Welt. Denn auch die meisten Wohnungen sind nichts als Zelte, die man jederzeit leicht abbrechen kann. Die heutigenWohnun-gen sind ja nur noch Absteigsquar-tlere, in die die Menschen kommen, um sich ein paar Stunden auszuruhen.

Der heutige Mensch ist einsam. Er ist bedrückt von dieser Einsamkeit und ist bedrückt von der Stille, die jede Einsamkeit mit sich bringt. Der heutige Mensch will die Stille nicht — wie wäre es sonst zu erklären, daß Menschen in ihren Wohnungen von früh bis abends das Radio laufen lassen, wobei sie gar nicht zuhören, sondern nur den Wunsch haben, eine Geräuschkulisse zu besitzen, die die Stille tötet.

Ist es tu verwundern, daß junge Menschen, denen die Eltern kein Vorbild waren, diese verlassen und ohne jede Hilfe ihren Weg suchen? Die Natur läßt sich niemals ganz unterdrücken. Und da die natürliche Großfamilie nicht mehr existiert, kommit sie in Form der Kommune verschoben und umgewandelt wieder zum Vorschein. Und deshalb soll die Existenz dieser Kommunen nicht nur negativ betrachtet werden. Denn sie sind ein nur zu deutliches Zeichen, daß in der heutigen Gesellschaftsordnung vieles nicht stimmt: daß die Familien keine Geborgenheit mehr geben, daß das Elternhaus keine Wärme mehr ausstrahlt, daß die soziale Sicherheit trotz aller Versicherungsgesellschaften nicht mehr gegeben ist.

Natürlich schläft der Teufel nicht. Und so ist es nur au erklärlich, daß in solchen Kommunen allerhand Dinge geschehen, die das Entsetzen so manches Saturierten erregen: eine Libertinage der Geschlechter, Anfälligkeit für Rauschgiftorgien, Anfälligkeit für politische Irrwege. Aber alle diese Erscheinungen sollen nicht ablenken von dem eigentlichen Anliegen dieser Kommunen: Sie sind eine Anklage an so viele Eltern, an so viele Verantwortliche, daß sie der jungen Generation nicht jenes Leben vorlebten, auf das sie ein Anrecht gehabt hätten, daß sie ihnen nicht die Geborgenheit, die Wärme, die soziale Sichherheit gaben, die sie für ihr Leben brauchten. Daß sie ihnen vor allen Dingen nicht jene Liebe schenkten, die sie ihnen hätten schenken müssen. Denn die Liebe, sagt die kleine Theresia von Lisieux in ihrer Sterbestunde, hat allein Gewicht.

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