6626395-1956_11_09.jpg
Digital In Arbeit

Für lange Abende

Werbung
Werbung
Werbung

Grillparzer „Sappho“ ist eines jener Schauspiele des Burgtheaters, die diese Bühne zur Erziehungsanstalt von Generationen gemacht haben. Hier lernten die jungen Menschen aller Stände das, was zuvor Jahrhunderte hindurch der kaiserliche Hof und die Gesellschaft des Adels dem jungen Menschen vermittelten: Wie man sich richtig benimmt, in Sprache, Auftreten, Umgang mit Mitmenschen. Wie man richtig lebt, sich gibt, stirbt: ja, bis zu diesem höchsten Pol reichte die Skala der Bildung, die das Burgtheater prägte. Typoshaft, gültig. Man erkannte den Menschen, der durch die „Burg“ gebildet worden war, ebenso wie man den Mann erkannte, den seine „Familie“, sein Amt, der „Rock des Kaisers“ geformt hatte. Das wäre auch heute noch eine der größten Aufgaben des Burgtheaters: „Klassiker“ aufzuführen, um der Jugend Form, Maß, Gesittung, im edlen Sinn des Wortes durch die schöne, anziehende Form beizubringen. Wenige Stücke sind für diese Aufgabe so geeignet, wie die „Sappho“. Hier ist die Humanität der deutschen klassischen Bildung zugegen, wobei durch das deutsch-antikische Gewand zart und leuchtend österreichische Milde durchschimmert. Eine Jugend und eine Menschenart, die im Kino und in der Zeit tief beeindruckt wird durch verzerrte, btutalisierte Kümmerformen des Menschlichen, sollte sich hier aufrichten können: am schlanken Maß dieser Wiener Antike. — Wer diese bildende, prägende Aufgabe unserer Klassiker im allgemeinen und unseres Grillparzer im besonderen verkennt, stößt diese Dichtung aus ihrem ureigenen Ort und Wirkraum. Das ist leider bei der gegenwärtigen Ueber-tragung der „Sappho“ ins Akademietheater geschehen. Man will hier eine „zeitgemäße“, an unsere Zeit sich anempfindende individuelle Liebestragödie darstellen. Das geht einfach nicht. Sappho ist nicht, wie man es hier im Programm offen ausspricht, eine ältere Schriftstellerin, die von ihrem jungen Freund mit ihrer jungen Sekretärin betrogen wird. Griltparzers Sappho spricht Sapphos Sprache — sehr bewußt läßt Grillparzer an entscheidender Stelle seine Sappho die Originalverse der großen Frau von Lesbos sprechen, obwohl ihm in seiner Zeit auch etwas „Eigenes“ eingefallen wäre. Sie ist also nicht Elsa Triollet oder die Frau Sartres oder eine der vielen heute schreibenden und sich unverstanden fühlenden Frauen der Literatur unserer „Moderne“. Sappho bleibt Sappho — und Lieselotte Schreiner spielt sie denn auch als Sappho. Da die Regie aber anders will, hat man ihr keine Melitta als Widerpart gegeben, xd a s Mädchen, d i e Jugend (Grillparzer steht hier ganz nahe seinem geliebten Raimund und seiner „Jugend“ als einer Symbolgestalt), sondern ein liebes Mäderl, zag und unbeholfen, vielleicht morgen dies und jenes, in keiner Weise aber eine „Melitta“. Die Aufführung verliert dadurch bereits die innere Spannung. Vergebens reckt sich Moog als greiser Diener zu antikischer Starre empor, versucht Auer, einen Weg von der großen Tragödin zu „seiner“ Kleinen zu finden, vergebens umstehen, ein erbarmungswürdiger Anblick, ein halbes Dutzend unbeholfener Elevinnen die unfaßbaren Ereignisse. Deprimiert verläßt das Publikum die Stätte eines verunglückten Experiments.

Es hat etwas Großartiges an sich: unbekümmert, ohne Rücksicht auf das Publikum, zelebriert der russische Professor Peter Scharoff, ein Schüler der erlauchtesten Moskauer Regiekunst, die „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow im Volkstheater. Fiat justitia, pereat mundus, dieser alte Grundsatz von Fanatikern der Jurisprudenz, wird hier auf die Bühne übertragen: Mag es noch so heiß im Züschauerraum sein, mögen die Stunden zähflüssig in die Nacht schreiten, hier wird mit minutiöser Genauigkeit ein Bild gemalt. Alle zehn Minuten einmal wird ein zarter neuer Farbton aufgetragen, oder angemeldet. Wer die Kraft hat, durchzustehen, wird belohnt. Und sieht dann noch, wie dieses Gemälde langsam in Bewegung gerät; und Welle auf Welle sich entrollt, in Schicksalen, die unerbittlich sind, wie die riesigen Massen gelber, mit Eisschollen bedeckter Gewässer, die Rußlands heilige Ströme den fernen Meeren im Frühling zuführen. Drei Schwestern, Töchter eines längst verstorbenen Obersten, verkümmern mit ihrem verkommenden Bruder in der Provinz. Sehnen sich nach „Moskau“, nach einem erfüllten Leben. Verwelken und verblühen. Wie nahe ist Tschechow hier Lorca: so nahe, wie das spanische Volk dem russischen Volke steht. Eine mitreißende schauspielerische Leistung: Martha Wallner. Ergreifend Joseph Hen-diichs: man möchte ihn sofort in einer Dramatisierung von Dostojewskijs „Idiot“ sehen. Um diese hervorragenden Erscheinungen: ein halbes Dutzend ansprechender Skizzen russischer Typen; und ein Publikum, das ermüdet und verwirrt und ergriffen dem langgezogenen Ton einer Flöte nachsinnt, eben der Dichtung Tschechows, die, sicher des kommenden Morgens, ihr Lied in die Nacht singt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung