Werbung
Werbung
Werbung

In Erwin Einzingers neuem Roman über die Populärkultur darf es durchaus "sprunghaft und gewagt zugehen".

Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" heißt das neue, lange erwartete Buch des 51-jährigen Schriftstellers Erwin Einzinger. Zehn Jahre lang hat der oberösterreichische Autor an diesem fulminanten Werk, das man zweifellos sein "opus magnum" nennen darf, gearbeitet, mehr als fünfhundert Seiten ist es stark.

Einzingers neuer Roman enthält mehr als zweihundert exakt gleich lange Texte, jeder füllt zwei und eine Drittel Seite. Aber dieses strenge Prinzip verhindert nicht, dass der Leser schnell den Boden unter den Füßen verliert: Schon auf den ersten Seiten stürzt man kopfüber in Einzingers Universum, und schnell vergeht einem Hören und Sehen, denn: "es darf durchaus ein wenig sprunghaft und gewagt zugehen." Mit hoher Geschwindigkeit verliert sich der Leser in diesem weder geografisch noch zeitlich begrenzten Kosmos, er stolpert durch entlegene Gegenden der Welt, springt kreuz und quer durch die Jahrhunderte, von der Vorzeit der Saurier in die Gegenwart des Kremstaler Landlebens, und so taumelt er durch dieses Sammelsurium von ungezählten kleinen Berichten, Geschichten und Anekdoten, staunend und sprachlos über die Myriaden von Episoden, die einem bei diesem Flug durchs All entgegenrauschen.

Nicht nur Berühmte

Bei den ungezählten Helden dieses Bandes handelt es sich nicht nur um berühmte Persönlichkeiten aus Musik, Kunst und Politik, sondern auch um äußerst unbekannte Figuren der Musikgeschichte, denn der Autor liebt zwar die Glitzerwelt der Popmusik durchaus, aber er hat auch ein ausgeprägtes Faible für die im Dunkeln, die man bekanntlich nicht sieht. Viele dieser Typen haben mit Unterhaltungsmusik im weitesten Sinne, meistens mit der Popmusik zwischen 1970 und heute, zu tun, und sie treten neben Elvis Presley, Jimi Hendrix, David Bowie, Bob Dylan, den Rolling Stones und den Beatles, neben Jethro Tull, Elton John und vielen, vielen anderen auf Einzingers kurioser Showbühne auf.

Schicksale und Zufälle

"Gar mannigfaltige Wege gehen Menschen", schreibt Einzinger, als wollte er Stifter parodieren. Daher erfahren wir meist wenig über die Musik selbst, über die Geschichten von Songs und über ihre Texte, denn vor uns liegt keine Kultur- bzw. Sozialgeschichte der Unterhaltungsmusik. Es geht ihm vielmehr um Schicksale und Zufälle von Komponisten und Interpreten, um all diejenigen Narren, die sich der Religion "Musik" ergeben haben und sich von ihr das Heil erwarten.

Das Buch ist mit überbordender Phantasie und grenzenloser Fabulierlust geschrieben, seine Lektüre ist fast immer vergnüglich, weil der Autor über eine enorme Portion von eigensinnigem Humor verfügt, auch über Ironie und Witz, der sich z.B. in einer Fülle von skurrilen Fußnoten austobt. Und natürlich weiß Einzinger so viele Details aus dem langen Leben der populären Musikburschen, dass es eine wahre Freude ist. So wird man, ehe man sich's versieht, auf verblüffende Weise in die unphilosophischen Abgründe dessen gezerrt, was man landläufig mit Pop bezeichnet, die viel gescholtene Populärkultur. Logisch, dass dabei auch Literatur und Malerei, heutige und frühere, ihren Platz bekommen, und es bedarf keines Blicks in das enorme Personenregister, um zu bemerken, dass Andy Warhol diejenige Figur ist, die uns in diesem Buch am häufigsten begegnet.

Ein besonderes Merkmal ist auch, dass die Schauplätze der Handlung oft innerhalb nur weniger Zeilen wechseln können, von Salzburg-Maxglan geht es direkt nach Asien, dann befinden wir uns in Innsbruck oder in Bad Wörishofen, von Franken geht's nach Boston, Oslo, Münzkirchen, St. Louis, auf den Semmering, nach Bad Segeberg, Krasnogorsk, ins Drautal und von Usbekistan nach Schwäbisch-Gmünd, oder auf ein Ölfeld von Westtexas, und natürlich immer wieder an die verschiedensten Orte in den usa. Einzinger nähert sich den amerikanischen Urmythen oft mit einem kindlichen, naiven Blick, und der ist gerne auf den wilden Westen, auf Büffelherden, Indianer, Prärie, Pferde und Karl May gerichtet. Dass Einzinger ein exzellenter Amerika-Kenner ist, weiß man bereits aus früheren Büchern, und natürlich auch durch seine Übersetzungen aus dem Amerikanischen, z.B. der Werke von John Ashbery, James Schuyler, William Carpenter.

Raus aus dem Trott

Es gibt allerdings noch eine zweite Ebene in diesem Buch, denn Einzinger arbeitet auch hier wieder am Mythos von der Transzendenz des Alltags. Alle Menschen in diesem Buch haben, ob sie nun die Musik zu Hilfe nehmen oder nicht, eine Sehnsucht, dem Leben noch irgendwas Besonderes abzutrotzen. Hinter all den historischen Hakenschlägen, was alles zur gleichen Zeit, am anderen Tag, drei Wochen später oder fünf Millionen Jahre zuvor geschehen ist, wird ein Lebensgefühl sichtbar, ein kleines Aufbäumen gegen das beschränkte Dasein, der immer währende Wunsch, sich aus dem peinvollen Trott herauszureißen. Deswegen erleben wir so viele Artisten, Magiere, Vortragskünstler, Spaßmacher, Schausteller, jonglierende Rapper, Politclowns und Tingeltangel-Angeber in diesem Buch, und nicht umsonst wird soviel über Talente und Begabungen und Karriere-Phantasien schwadroniert, von Aufbrüchen und Abstürzen geschwätzt, vom umjubelten Erfolg und vom erbärmlichen Scheitern. Auch die vielen Geschichten von Erfindungen, die uns heute selbstverständlich sind, wie etwa Suppenwürfel, Wegwerfwindel, Toaster oder Computerchips, erzählen ihren eigenen Roman. So sucht eben jeder aus dem simplen Suppen-Alltag einen winzigen Funken Göttlichkeit herauszuschinden, und sei es mithilfe von Esoterik, Okkultismus und Naturheilkunde.

Einen Schlüssel zu diesem Buch könnte denn auch jene Analyse liefern, die das vielgestaltige Motiv vom Kochen und Essen der Suppe erforscht. Ein anderer findet sich auf Seite 253. Dort liest man einen Auszug aus einem 1844 geschriebenen Brief Friedrich Hebbels: "Ahnung und alles, was damit zusammenhängt, existiert nur in der Poesie, deren eigentliche Aufgabe darin besteht, das verknöcherte All wieder flüssig zu machen und die vereinzelten Wesen, die in sich selbst erfrieren, durch geheime Fäden wieder zusammenzuknüpfen ..."

Hier ist das poetische Programm des Buches benannt: mit seinen unzähligen kleinen Geschichten, Anekdoten und Episoden wird das verknöcherte All wieder flüssig gemacht, und die tausend vereinzelten Figuren, all die kleinen, vereinzelten Persönlichkeiten der Weltgeschichte würden in sich selbst erfrieren, wenn der Autor sie nicht an geheimen Fäden auf verblüffende Weise wieder zu neuem Leben emporziehen würde.

Ein Glücksfall

Erwin Einzingers neues Buch "Aus der Geschichte der Unterhaltungsmusik" verflüssigt die Verknöcherungen der Historie in reiner Poesie. Dieses Buch ist ein Glücksfall der österreichischen Literatur, ein funkelndes Feuerwerk von höchster Vitalität und Fantasie, und wer die fünfhundert Seiten nicht in einem einzigen Atemzug genießen kann, der probiert es eben in kleineren Mengen. Viel Vergnügen!

Aus der Geschichte der

Unterhaltungsmusik

Roman von Erwin Einzinger

Residenz Verlag, Salzburg 2005

534 Seiten,geb., e 25,60

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung