6743360-1966_50_13.jpg
Digital In Arbeit

Fußnoten zu Proust

19451960198020002020

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Von Marcel Froust. Werkaus- ffabe des Suhrkamp-Verlages, Frankfurt am Main, 1964. 13 Bände, jeder Band S 87.—.

19451960198020002020

AUF DER SUCHE NACH DER VERLORENEN ZEIT. Von Marcel Froust. Werkaus- ffabe des Suhrkamp-Verlages, Frankfurt am Main, 1964. 13 Bände, jeder Band S 87.—.

Werbung
Werbung
Werbung

Er deckt alb und beobachtet mit der zärtlichsten Exaktheit des Gefühls. An den igeringsten Regungen liest er die größten Veränderungen ab. Er nimmt teil an der Süße und Sehn- süchtigkeit des flüchtigen Eindrucks, mit behutsamer Umständlichkeit durchforscht er die sentimentale Differenziertheit. Nichtigen Vorgängen entzaubert er erfüllte Vergänglichkeit, und aus Details ohne sichtlichen Belang, aus beiläufigen Eindrücken destilliert er bestürzendes Erleben. Er legt Zeugnis von der Verwobenheit ins gesellschaftliche Netz. Er durchwirkt die Vergangenheit des Handelnden mit dem zögernden Verflochtenwerden des Unentschlossenen.

Proust erschafft seine wahre Welt: Veränderlich bis in die letzte Einzelheit, wechselseitig aiufs vielfältigste durchspiegelt, vieldeutig und unstet, zauberhaft leicht und doch durchaus haltbar verknüpft. Seltene Empfindungen häufen sich beglückend Seite um Seite. Reichliche Abwechslung entsteht aus dem Spiel der Möglichkeiten und Wiederholungen. Von Einsicht durchkllärt erschließen sich Zusammenhänge, ziehen durch die bewahrte Kraft des Verborgenen doppelt an. Gehalt wie Sinnhaftig- keit werden: in der-komplexen Auflösung scheinbar alltäglicher Vorgänge und des zu Unrecht Selbstverständlichen spürbar. Erstarrtes gerät in Bewegung. Mißachtetes taucht auf. Ungeordnetes tritt zueinander. Verschwimmendes erhält Kontur, Gleichgültiges gliedert sich in Kontraste. Eine verarmende Welt erneuert sich in der Vielgestaltigkeit der Erinnerung, reichlich neue Möglich keiten erfrischen das träge Erleben, inhaltsleere Erfahrungen überraschen mehrsinnig. Eine künstliche Welt entsteht aus der Kraft des ihr Angehörigen.

Proust war einem Paradox auf der Spur. Veränderung hat zu ihren Voraussetzungen die Dauer, und deren Erlebnis, die Erinnerung. Damit der Vielfalt ihre Unendlichkeit abgewonnen werden kann, damit als Prinzip der Vielfalt die Veränderlichkeit den nie abgeschlossenen Erscheinungsfolgen unterlegt werden kann, muß Bewahrendes die Verbindung zwischen Vorgefallenem und Kommendem hersteilen. Die Veränderlichkeit erfüllt sich in der Dauer und hängt von ihr ab. In der Kehre stimmt es auch. Verfestigtes, Eindeutiges, Fertiges, Erledigtes, alles, was so ist und keinesfalls mehr anders werden kann, bedarf zur Auffassung seines Fortbestandes ringsum der Veränderung. An Ihr läßt Geschichte, langes Dauern, beständiges Beharren sich abnehmen. Reduzierte eine Wirklichkeit sich aufs schlechthin Beharrliche, wäre selbst das Spiel der Möglichkeiten entzogen: das derart Versteinerte noch hätte den Begriff seiner selber aus dem. Gegensatz, aus der .Veränderlichkeit. Beharrlich würde es diese leugnen und wäre1'doch lediglich kraft dieser Leuignung, kraft dieses Nichtveränderlichseins beharrlich. Dauern bann demgemäß auf Vielfältigkeit nicht verzichten und Veränderlichkeit nur aus dem beharrenden Vermögen zu stets neuen Zusammenstellungen sich fügen. Wollte einer des Veränderlichen habhaft und gerecht werden.

er müßte verstehen, es zu seiner Dauerhaftigkeit zu erheben. Hätte er aber bloß die reine Veränderlichkeit, die schiere Zeit, gefunden, er wäre damit an den Ursprung des Dauerhaften geraten.

Prousts Beginnen daher, bis in die nebensächlichsten Erscheinungen die folgenreichsten Zusammenhänge nachzuspüren, daher sein Unterfangen, aus dem, was an Lebensäuße- rumgen der Gleichgültigkeit, dem Vergessen, der Nichtachtung preisgegeben wird, Wesen und Hoffnung dieses Lebens selbst zu entdecken. In der Jagd der Äußerlichkeiten wird gering geschätzt, was häufig wiederkehrt. Teils wird seiner mißachtet, weil in der stetig anders wiederkehrenden Begebenheit das Bedeuten der Gleichheit nicht erfahren wird, teils setzt sich darüber hinweg, wer im scheinbar monoton sich Erneuernden die geringen Veränderungen und Umschichtungen nicht wahmehmen bann. So kann ein und derselbe von Veränderlichkeit reden, ohne der darin ausgedrückten Wiederholung bewußt zu sein, und über Eintönigkeit sich ärgern, ohne die geringste Abwechslung selbst in seinem häufigen Ärger zu bemerken. Alsbald legt so einer leichtfertig sich fest, sein Erleben versandet, alles wird ihm eins, seine Welt verschränkt Sich in Gegensatzpaare, die er so säuberlich getrennt hält, wie sie ihn von der Wirklichkeit atohalten. Entdeckte schließlich einer gar an erhabenen Objekten den Irrtum der getrennten Gegensätze, gleich fällt er ins verkehrte Extrem und versöhnt voreilig, was ebensowenig einseitig versöhnt wie allseitig getrennt sein kann.

Der Erfahrung seines lebendigen Paradoxes stöbert Proust in unendlichen Variationen nach. Ob ihn nicht oft die Kraft und das Zutrauen zu seinem Unternehmen verließ? Merkwürdig, daß er der Veränderlichkeit als Form der Dauer doch nicht traut: ermüdend repetiert er die Möglichkeiten der Vielfalt, um stets sich des Prinzips ihrer Einheit, der Fortdauer also, zu versichern. Lähmend variiert er anderseits das Erlebnis der Dauer,

die Erinnerung, bis in die dunkelsten Abwege hinein, vielleicht geängstigt durch die Vorstellung, daß dem Wie- dergefundanen die Fülle der Zeit abgehen könnte. Jäh und immer wieder tritt der Umschlag ein: das Seltene wird abgedroschen, das Erlesene banal, das Reichliche versiegt, das Zärtliche verliert den Reiz, die Einsicht wird verzettelt, der Gehalt erschöpft sich. Daß, was Dauer haben soll, auch unvollendbar ist, macht ihm ohne Unterlaß zu schaffen. Er kennt das Umsonst, unab- weisliche Konsequenz des beharrlichen Nichtzuendekommens im Gesetz der wiedergefundenen Zeit. Auch hierin mit sich selbst nie fertig, weigert er sich aber unablässig diesem Gesetz. Unermüdlich rollt er den Stein der Erinnerung gegen den Abhang der Zeit hoch, doch genügt ihm nicht diese Bewährung. Vermessen wie Sisyphus erhofft er irgendwo vom Ausgleich der Kräfte, daß durch seine Leistung endgültig zur Ruhe gebracht sei, was aus sich nicht bewegt ist, während ja derselbe Ausgleich der Kräfte nicht zur Ruhe kommen läßt, solange die Kräfte in Wirksamkeit sind. Statt ergeben dem zu dienen, dessen noch am physischen Leben erhaltener Nutznießer er ist, lehnt er sich auf. Und wie die Erinnerung, den kurz erst beschworenen Gesetzen gehorchend, ihm wieder entgleitet, wie der Stein den Abhang der Zeit hinab- köllert, mischt in die Erfüllung sich unheilbares Leid. Der, der nicht mehr sterben kann, der kraft seiner Erfahrung in den anderen überlebt, ist bei sich der zu Tod Kranke.

Dies leidgetränkte, wiewohl erfüllte, sinnreiche Umsonst macht, daß der Roman, hörte einer irgendwo im ersten Band zu lesen, auf, nicht weniger Ausschnitt bliebe, als er zu Ende des letzten Bandes unvollendet ist Dies Umsonst und Prousts ängstliche Sorge um das doch viel stärkere Paradox bewirken auch den fortwährenden Wechsel von Gewinn und Verlust, Freude und Lustlosigkeit, Anregung und Langeweile, Gelingen und Versagen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung