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Georges Simenon: Der Mann, der wie Maigret sein wollte

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Genau weiß wohl niemand, wieviel Georges Simenon geschrieben hat. Jedenfalls mehr als jeder andere Autor des 20. Jahrhunderts. Unter seinem richtigen Namen erschienen 193 Romane und 51 Erzählungen, über 200 weitere Romane wurden unter 18 verschiedenen Pseudonymen publiziert. Die Weltauflage seiner Bücher betrug mehr als 500 Millionen.

Er war ein hervorragender Geschäftsmann und ging frühzeitig dazu über, sich in seinen Verlagsverträgen die Übersetzungsrechte vorzubehalten und sie selbst zu vergeben. In späteren Jahren fand er es zu unbequem, die Tantiemenabrechnungen überprüfen zu lassen - da er genau wußte, welche Gewinnspannen für die Verlage drin waren, verkaufte er die Publikationsrechte gegen Pauschalbeträge.

Er hinterließ ein Milliardenvermögen, wurde aber immer wunderlicher und verbrachte die späten Jahre mit Teresa, einem ehemaligen Dienstmädchen seiner zweiten Frau Denyse, in einem kleinen Haus in Lausanne. Er besaß ein Schloß sowie mehrere Wohnungen, die er aber nicht mehr betrat. Die Wände seiner Zimmer waren nun kahl, obwohl er eine bedeutende Kunstsammlung mit Werken von Matisse, Picasso, Cocteau und anderen besaß. Die Räume waren abends vom kalten Licht nackter Neonröhren erfüllt, als wollte er Gespenster vertreiben, und in einem gewissen Sinn war sein früheres manisch getriebenes Schreiben ein Kampf mit Gespenstern gewesen. Auch seine Bibliothek hatte er längst in einer anderen Lausanner Wohnung untergebracht, in die er nie mehr ging. In einem großen Raum standen dort ausschließlich seine eigenen Bücher, angeblich in 200 Sprachen übersetzt, insgesamt 18.000 verschiedene Ausgaben.

Wer seine Memoiren kennt, weiß, mit welcher Eindringlichkeit Simenon in diesem seinem letzten, 1981 erschienenen Buch (nach dem er allerdings noch 21 Bände Erinnerungen diktierte) versichert, er sei nun endlich glücklich. Gerade die Intensität, mit der er darauf beharrt, läßt Zweifel aufkommen. Er schrieb die Memoiren als 77-jähriger, als Brief an den Geist seiner Tochter Marie-Jo, die drei Jahre vorher Selbstmord begangen hatte. Es ist eine Selbstrechtfertigung und Anklageschrift gegen die zweite Frau Denyse. Patrick Marnham, dessen gründlich recherchierte Simenon-Biographie nun von Helmut Kossodo ins Deutsche übersetzt wurde, sieht in dem Buch „eine Weigerung, ein überwältigendes Schuldgefühl anzuerkennen”.

Simenons zeitweise chaotisches Privatleben und sein manisch getriebenes Schreiben sind von seinen familiären Prägungen, Kindheits- und Jugenderfahrungen mit der Allgegenwart von Heimtücke und Gewalt im von Nationalkonflikten zerrissenen, im Ersten Weltkrieg militärisch besetzten Lüttich, nicht zu trennen.

Millionen Menschen verschlangen und verschlingen Simenons Maigret-Romane. Aber als er den Kommissar erfand, war Simenon bereits ein erfolgreicher Autor von Trivialromanen und vor der Erfindung des Maigrets hatte er in einem Jahr 48 Romane geschrieben, wobei manche Auflagen von mehreren hunderttausend erreichten. Er schrieb 80 maschinge-schriebene Manuskriptseiten pro Tag, in zwei Arbeitssitzungen ohne Pause. Er hatte Probleme, seinen Verleger von der Erfolgsträchtigkeit Maigrets zu überzeugen - er selbst hoffte, mit Maigret soviel Erfolg zu haben, daß er nur noch vier bis sechs Romane jährlich und nur noch 20 Seiten pro Arbeitstag schreiben mußte.

Daß ihm die Arbeitslast zu groß geworden war, ändert nichts daran, daß Simenon seine Bücher in rasendem Tempo in einem Zug schreiben mußte, ohne sich vorher Details auszudenken - er mußte seinen Geist leeren für die Gestalten und Begebnisse öffnen, die beim Schreiben Gewalt über ihn gewannen. Bei der Arbeit an den letzten Maigrets ertrug er nicht einmal mehr das Geräusch des Umblätterns, wenn Teresa neben ihm las.

Simenons Gestalten und die Ereignisse, in die sie verwickelt werden, die Milieus, die er beschreibt, die Allgegenwart des Verhängnisses und die hinter den Fassaden lauernde Gewalt, verraten viel über Simenon. Der massige Maigret mit seiner Väterlichkeit, seinem Einfühlungsvermögen, seiner Fähigkeit, alles zu verstehen und seinen atypischen Methoden ist eine archetypische, ordnungstiftende Instanz. Und er ist Simenons anderes Ich, indem er repräsentiert, was diesder gern gewesen wäre.

Auch mit den geordneten kleinbürgerlichen Verhältnissen, in denen er lebt. Auch mit seinem maßvollen Umgang mit dem Alkohol, der Simenon zeitweise nicht gelang. Und mit seiner guten Ehe. Simenon hingegen war nicht nur beim Schreiben, sondern auch in der Sexualität ein manisch Getriebener - wenn auch seine Aussage, er habe 10.000 Frauen gehabt, von seiner zweiten Frau dahingehend korrigiert wurde, sie sei mit ihrer Schätzung nur auf 1.200 gekommen.

Ein großer Teil seiner Romane sind Nicht-Krimis, sind „gewöhnliche Romane”, manche sind schwach, manche hervorragend - wobei er keineswegs an den besseren länger schrieb.

In „Die Glocken von Bicetre” beschreibt er die Wochen, in denen ein vom Gehirnschlag betroffener Zeitungsverleger im Zustand völliger Hilflosigkeit beschließt, ein anderer zu werden, und wie er, genesend, immer mehr von diesem Vorsatz abrückt, um das Spital als genau derjenige zu verlassen, der er war.

Marnhams Buch ist, gerade dank seiner Faktenorientiertheit und vorsichtigen Wertungen, eine faszinierende psychologische Studie über einen Autor, der von vielen Dichtern, unter ihnen Andre Gide, bewundert wurde und, wie Balzac, in einer neuen „Comedie humaine” die ganze Dramatik des Lebens einzufangen versuchte. Er starb am 4. September 19|9, 86 Jahre alt. Wie er es gewünscht hatte, geschah es: Seine Kinder erfuhren von seinem Tod nach der Einäscherung aus dem Radio.

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