6638263-1957_28_12.jpg
Digital In Arbeit

Geschichte der neuen russischen Literatur

19451960198020002020

Zum Buch von Marc Slonim: Modern Russian Literature. New York. Oxford University Press. IX und 447 Seiten.

19451960198020002020

Zum Buch von Marc Slonim: Modern Russian Literature. New York. Oxford University Press. IX und 447 Seiten.

Werbung
Werbung
Werbung

Sieht man von entsprechenden Abschnitten in W. Lettehbauers „Russische Literaturgeschichte" ab, dann gibt es in deutscher Sprache keine einigermaßen ausreichende Einführung in die neueste Periode der führenden slawischen Dichtung. Der des Russischen nicht oder nur ungenügend Kundige muß deshalb zu Darstellungen in westeuropäischen Sprachen greifen, bisher vor allem zum ausgezeichneten, vorurteilslosen, doch nach elf Jahren schon überholten Buch von George Reavey „Soviet Literature to-day“, allenfalls noch, als zu einem bio-bibliographischen, zahlreiche Einwände auslösenden, „Russian Writers" von Valentine Snow. Nun liegt aber eine als Ganzes wohlgelungene Uebersicht von Marc Slonim vor, der eine, bis zum Datum des eventuellen Erscheinens fortreichende, deutsche Ausgabe dringend zu wünschen ist.

Ausgangspunkt des unbefangenen Berichts sind die „ins Volk gehenden" Populisten samt ihren Gegenspielern, den Panslawisten. Von Lavrov und Bakunin, Fürst Meščerskij und Leontev, von Danilevskij, Aksakov und Michalovskij geleitet uns der Autor zu den liberalen Widersachern des Zarismus, wie Gleb Uspenskij, Garšin, Soltykov-Ščedrin und den großen Lyriker Nadson. Einem Kapitel über konservative Heimatdichtung, vorzüglichen Bildnissen der poetischen Antipoden Apuchtin und Fet, folgt ein Herzkapitel über Cechov, den bedeutendsten Vertreter eines wehmütigen Herbstes der russischen Adelskultur, mit ihren träumerischen Kirschgärten und von westlicher Gesittung beleckten Bären. Nun ein scharfer Einschnitt. Vom Westen in den Bann gezogen, dennoch russisch bleibend, die Modernisten und Mystiker Briusov, Balmont, Sologub, Merežkov- skij, der Philosoph Vladimir Solovev. Wiederum ein Sonderabschnitt: Gorkij, in den Weiten und in der j-uge ciuc eigensianaig-eigenartigen ijenies. tin pem- . liches Zwischenspiel der Sexualromantik der Arcy- , bašev und Andreev. Und nun der große Dichter Blok samt den echten Symbolisten Vjačeslav Ivanov, Andrej Belyj, Gumilev und dessen später geschiedene Gattin Achmatova, Remizov. Mehrere dieser Bewohner elfenbeinerner Türme suchten den Weg zum kommunistischen Rußland, nur einer. Blok, hat ihn gefunden (im berühmten Poem „Die Zwölf"). Nicht diese Akmeisten, Futuristen und Egoisten wurden zu „Großen Ahnen" der heutigen Sowjetliteratur. Das waren die Populisten, Gorkij und die beiden überragenden Lyriker der bolschewikischen Kampfzeit Esenin und Majakovskij. Sie wurden, zusammen mit dem Romanov-Bastard Demjan Bednyj, die Dreiheit der Lieblinge der lesenden Massen. Esenin und Majakovskij endeten durch Freitod; sie hinterließen ein unvergängliches Werk und die Legende ihres wilden ' Erdenwallens.

Damals, um 1930, hatte sich eine kluge Verkleidung neuromantischer Phantastik, im Geist E. T. A. Hofmanns, nach vorne geschoben, die der Serapions- brüder. Angekündigt durch den panslawistischen Pil- niak, mit den witzigen Satirikern Zoščenko, Petrov und Ilf, mit dem Biographen Vsevolod Ivanov, haben sich die Serapionsbrüder mitunter in gesinnungstüchtige Sozrealisten verwandelt, so Konstantin Fedin, Kataev und Tichonov. Es wurde nun gefährlich, sei es romantisch, sei es futuristisch, zu schwärmen. Ingenieure der Seele, hatten die Schriftsteller aufzubauen und zu erbauen. Im Stil des Sozfialisti- schen)-Realismus. Den wiederentdeckten vaterländischen Größen zu Ehren — so Lev Tolstojs Gliedvetter Aleksiej. dem man seine aristokratische Abkunft verzieh: als hohes Lied auf das südrussische land und auf dessen Menschen, im „Stillen Don" des herrlich begabten Šolochov; als Zeugnis vom Heldentum der Heranwachsenden im zweiten Weltkrieg, in Fadejevs .Die Junge Garde“. Auch den europäischsten von allen; ihn, der zugleich die Morgenröte eines freieren Schaffens für die Sowjetliteratur ankündigte, Ilija Ehrenburg — „Tauwetter“ — werden wir hier einordnen, denn er steht mit beiden Füßen und er wirkt mit seiner federgewandten Hand auf dem Boden, auf der Basis einer ironisch betrachteten Wirklichkeit, die freilich wahrer ist als die von den Kulturdiktatoren, von Ždanov zu Šepilov, geforderte mit ihren „positiven Helden“, ihrer Schwarzweißmalerei. Wahrer als der maßlos überschätzte Gladkov („Zement“), als ein zweiter Epiker der Industrialisierung Ostrovskij („Wie der Stahl gehärtet wird“) als Ažaev voran, viele Schilderet sowjetischer Exotik.

Sie alle haben während des „Vaterländischen Krieges“ ihre Feder in den Dienst der patriotischen Sache gestellt. Slonim erörtert nach dieser Kampfprosa die ihr gleichzeitige Lyrik, und er schließt mit einem Kapitel über die, von ihm eher negativ beurteilte, Nachkriegsentwicklung. Besonders abfällig äußert er sich über die Dramatik der Surov und Konsorten, und auch über den szenisch befähigteren Simonov. Die allemeueste Entwicklung, die mit dem Namen Dudincev verknüpft ist, konnte der Verfasser noch nicht berücksichtigen. Sie bestätigt indessen den Optimismus, in den Slonims Werk ausklingt: „Der Werdegang der russischen Literatur ist nicht zum Stillstand gebracht worden... Sie wird in sich selbst genug Ressourcen finden, um ihre glorreiche Geschichte fortzusetzen.“

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung