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Gott in Frankreich — ohne Ruhe
Weltlicher Einkehrtag in einem Kloster, an dem auch Ordensleute teilnehmen. Bei der heiligen Messe erschrickt der Priester bei der Kommunionausteilung: er hat nicht genug Hostien im Ziborium, denn der Sakristan vergaß zwei An-icesende. In vielen Kirchen bewahrt man kaum mehr Hostien im Tabernakel, sondern läßt sie nur für die Anzahl der Kommunizierenden konsekrieren. Nach der heiligen Messe sucht der Geistliche vergeblich nach einem Betschemel zur Danksagung. Auch diese wurden unmodern. Ordensleute und Laien machen selten mehr eine Danksagung; ebensowenig wie es bei der Messe praktisch keinen Augenblick der Sammlung und des inneren Gebetes mehr gibt, da ständig laut gebetet oder gesungen wird, gibt es ihn auch nicht mehr nach der Kommunion, wo man sofort weiter-zusingen hat, will man nicht mißbilligend angestarrt werden.
Jede persönliche Beziehung zu Gott ist suspekt und wird weggeschwemmt von Liturgie und liturgischem Gesang. Es gibt eine ganze Anzahl tiefgläubiger Menschen aller Altersklassen, die bisher nicht nur sonntags, sondern möglichst auch wochentags zur Messe gingen. Viele von ihnen gaben es auf, weil sie verzweifelt sind, daß man heute, in der Zeit der Vermassung, selbst ihr Glaubensleben gleichschalten will.
Eine ältere Dame sagte: „Ich gehe in keine Messe mehr. Warum müssen diejenigen, die auch im Alltag Angst vor Stille und innerer Einkehr haben, warum muß die Kategorie Menschen, die nicht ohne Sportveranstaltung, Transistorradio und Fernsehlärm leben können, jetzt auch in der Kirche das letzte Wort haben? Wir reden ihnen nichts in ihre Lebensweise drein, aber man soll auch uns, die wir nur ein Leben aushalten, wenn wir Oasen der Stille haben, in Ruhe lassen. Und ganz besonders soll man uns in Ruhe lassen in unserem Leben mit Gott!“
Ein bekannter Industrieller: „Ich telephoniere in der ganzen Pariser Umgebung herum, um noch eine einzige stille Messe ausfindig zu machen, zu der ich sonntags hinfahre ... Es ist keine Sammlung mehr möglich, nichts, ich halte das ganz einfach nicht mehr aus. Liturgie und liturgisches Mitbeten — gewiß! Für die, denen es ein Bedürfnis ist.“
Paris: In der Kirche St. Louis d'Antin beim Bahnhof St. Lazare. Sie ist den ganzen Tag übervoll von Betenden. Ich bat den Priester in der Sakristei, ob es möglich wäre, vor der Messe zu kommunizieren, und erklärte meine Gründe. Er aber fuhr mich an — mjcjs mir denn einfiele? Die Kommunion sei integrierender Bestandteil der Messe und niemals aus ihrem Verband loslösbar, ich solle freundlichst entweder die Messe mitfeiern oder eben fortgehen, vorher würde das Altarsakrament nicht mehr ausgeteilt, solcher „Unfug“ sei vorbei.
Szene in einer anderen Pariser Kirche, deren Pfarrer immer in der
Avantgarde von allem, was gerade modern ist: Weder ein ewiges Licht noch ein Tabernakel, weder Marien- noch Heiligenstatuen. Ist das wirklich eine katholische Kirche? Natürlich — die Pfarrkirche.' Und dem Besucher wird zu verstehen gegeben, daß es Zeit sei, mit vielen Formen überholter „Volksfrömmigkeit“ aufzuräumen.
Antiquare machen gute Geschäfte, da viele Pfarrer die schönsten gotischen und barocken Kunstwerke verschleudern. Auch das im Namen der unmodernen Volksfrömmigkeit.
Wer als Österreicher berichtet, daß es bei uns — auch sonntags — noch tüirklich „stille“ Messen gibt, bei denen derjenige Ruhe findet, der sie bei Gott sucht, wird aufrichtig beneidet, und zwar von den Alten und Jungen! Erzählt man, daß man bei uns nach der Kommunion seine Danksagung verrichten kann, ohne auf- und niederhüpfen zu müssen, möchten alle mit uns tauschen. Das avantgardistische Frankreich, das Land der ausgeprägtesten Individualitäten, wird auf einmal zur Beute von Individualitätsfeinden. So wie die Liturgiereform gegenwärtig in den meisten Pfarren gehandhabt wird, kehrt sie sich bewußt, ressentimentgeladen und feindselig gegen jeden, der es wagt, mit Gott „allein“ sein zu wollen, gegen jeden, der es wagt, anzunehmen, daß Gott jeden einzelnen Menschen auf dem ihm bestimmten, dem ihm besten Weg führt.
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