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Identität schwindet dahin

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Seit dem Beginn des „Wiederaufbaues" hat das Land in den Alpen vermehrt den Begriff „Heimat" in sein Fremdenverkehrskonzept eingebaut. Die Tiroler hatten auch gar nichts anderes zur Verfügung als intakte Kulturräume - die charakteristische Architektur, stark religiös akzentuiertes Brauchtum, Handwerk, Küche und (noch) harmlosen Sport.

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Seit dem Beginn des „Wiederaufbaues" hat das Land in den Alpen vermehrt den Begriff „Heimat" in sein Fremdenverkehrskonzept eingebaut. Die Tiroler hatten auch gar nichts anderes zur Verfügung als intakte Kulturräume - die charakteristische Architektur, stark religiös akzentuiertes Brauchtum, Handwerk, Küche und (noch) harmlosen Sport.

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Abgesehen von der überwältigenden Schönheit eines Gipfelpanoramas bei Sonnenaufgang, der in Eis und Schnee bewegungslos verharrenden Gipfel, ist das Leben in den Bergen äußerst anstrengend. Vielleicht ist das Schroffe, Felsige, im Grunde Unbezwingbare besonders geeignet, ein Gefühl für Heimat oder Geborgenheit entstehen zu lassen, das sich aus niederen Stuben, kleinen Fenstern, Herrgottswinkeln und dem Knistern des Feuers in offenen Kaminen oder Herden nährt. Doch aus den meisten Laischaften, südlich wie nördlich des Alpen-Hauptkammes, zogen die Kinder der Bauern noch zu Beginn dieses Jahrhunderts in Richtung Kempten, Stuttgart, Nürnberg, Freiburg fort, um sich als Viehhüter, Gänsemägde oder Stalldirnen zu verdingen.

Allein aus diesem Aspekt ist der besondere Heimat- und Kulturbegriff („Tirol isch lei oans") verständlich. Und auch, daß die alpine Bevölkerung alles Erlaubte zu unternehmen gewillt war, um die Armut zu überwinden und ihre Situation zu verbessern. Was lag also näher, als ihre Daseinserwartungen in jenes Licht zu stellen, das der Fremdenverkehr angezündet hatte. Ausschließlich im Besitz ungeheurer Gesteinsmassen, Meer, mediterranes Klima, Sonne, Sand, Strand entbehrend, galt es, herauszufinden, was die Einzigartigkeit dieser Felsen, Almen, Joche und Grate ausmachte: Abenteuer auf Leben und Tod. Ob als Kletterer, Wilderer oder Schifahrer.

Seit dem Beginn des „Wiederaufbaues" hat das Land in den Alpen vermehrt den Begriff „Heimat" in sein Fremdenverkehrskonzept eingebaut. Die Tiroler hatten auch gar nichts anderes zur Verfügung als intakte Kulturräume - die charakteristische Architektur, stark religiös akzentuiertes Brauchtum, Handwerk, Küche und (noch) harmlosen Sport.

All das war für die Städter etwas, was sie in ihrem Gefühl, ihrer Emotion ansprach. Noch vor kurzem verwendete die Tirol-Werbung das Foto eines Mannes, der mit einem Buben, ein Fichtenbäumchen tragend, bergan in Richtung Bauernhof durch den Schnee stapft. Über die psychologischen Hintergründe der Faszination der Einfachheit braucht man nicht lange zu rätseln. Aber wirkt sie noch?

Einem kurzen Kommentar einer Tiroler Tageszeitung vom September war zu entnehmen, daß die Landeshauptstadt Innsbruck bei den Nächti-gungsziffern, bezogen auf europäische Fremdenverkehrsstädte, auf dem letzten Platz liege. Die Tendenz sei weiterhin sinkend. Das Profil der Landeshauptstadt lasse mehr als zu wünschen übrig. Jahrelange Ignoranz und Konzeptlosigkeit schlügen wirtschaftlich zu Buche. Selbst Veranstaltungen wie die „Ambraser Schloßkonzerte" oder die „Festwochen der Alten Musik" könnten den Ruf nicht retten.

Der europäische Gast will wissen, was ihm - und in welcher Qualität -geboten wird. Von den Olympischen Spielen, die Innsbruck wie auch dem Land Tirol eine weltweite Reputation als Sportstadt einbrachten, ist nichts mehr übrig.

Was selbst Tirolern großteils unbekannt ist, ist die Tatsache, daß der Fremdenverkehr, den sie für die Haupteinnahmequelle des Landes halten, mit 15,4 Prozent der Bruttowertschöpfung an vierter Stelle rangiert. An erster Stelle glänzt die Vermögensverwaltung (Versicherungen, Immobilien, Banken) mit 29,5 Prozent.

Das Gezeter der Hoteliers von der angeblichen Geschäftsschädigung, wenn die „Piefkesaga" von Felix Mit-terer im österreichischen Fernsehen ausgestrahlt wird, ist angesichts dieser Bealität vollkommen deplaziert. Das Greinen wäre an anderer Stelle angebracht.

Tirol, und vielleicht auch andere Alpenländer, haben immer ihre „Heimat" einerseits eingetauscht, um den Anschluß an den „modernen Lebensstil" nicht zu versäumen, und sie andererseits dadurch verkauft. Kritiker nannten es Prostitution - und wurden bisweilen ihrer Täler, wenn nicht gar des Landes verwiesen.

Jetzt, da der Begriff Heimat hohl und brüchig geworden ist, ahnt man in Ansätzen die Fehler, Unterlassungen und Irrtümer. Die Landwirtschaft, mit 3,15 Prozent an absolut letzter Stelle, müßte nach dem Konzept einer intakten Fremdenverkehrswirtschaft wenigstens unter den ersten drei Wirtschaftsfaktoren zu finden sein, wird aber den EU-Konsequenzen folgend im Jahre 2010 knapp an die null Prozent herankommen. Jener Bereich also, der über Jahrhunderte Hort jeglicher kulturellen Aktivität war, von dem das Land zehrt, dessen fortschreitende Dezimierung seine letzten Reserven mobilisiert und aufbraucht.

Daß damit die gesamte kulturelle Substanz mit ihren religiösen, ethnischen und volkswirtschaftlichen Komponenten zerfällt, liegt auf der Hand. Nicht, daß den Verhältnissen früherer Zeiten das Wort geredet werden soll, aber, mit Verlaub, was tritt an ihre Stelle in einem entheimateten und dekulturierten Land?

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