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Kubin über sich selbst

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Ein rätselhafter Schauer erfaßt mich jedesmal, wenn ich überlege, daß ich schon fünfundsiebzig Jahre lang Bürger dieser Erdenwelt bin. Mitunter kommt mir diese Zeitstrecke endlos vor, um mir wieder in anderen Augenblicken wie ein kurzer Traum zu erscheinen. Aber mein Geburtsschein besagt unwiderleglich, daß ich am 10. April 1877 in Leitmeritz in Böhmen zur Welt kam. Da muß es wohl so stimmen.

Mein Vater war erst Offizier, nach dem Krieg 1866 nahm er seinen Abschied und wurde Geometer im k. k. Dienst. Meine Kindheit verlebte ich in den Salzburger und Pinzgauer Bergen, doch bis heute und in wachsender Sehnsucht zieht es mich nach der Landschaft der böhmischen Heimat. Herumschlendern, Lesen von Geschichtenbüchern und die phantastische Andeutung meiner Umwelt machten aus mir einen fast vorbildlich schlechten Mittelschüler. Todesfälle in der Familie, eine neue Heirat meines Vaters, eine kleine Erbschaft, die mir zufiel, die dauernde zeichnerische Manie, von der ich besessen war, verflechten sich zu dem Geschick, das mich 1898 nach München und an die dortige Malerakademie brachte.

Im Jahre 1902 zeigte ich meine Blätter in einer ersten Schau in Berlin und zu gleicher Zeit machte eine Mappe mit Zeichnungen meine Art bekannt.

1904 heiratete ich, zwei Jahre später zog ich von München fort in das kleine alte Schlößchen Zwickledt, das wir erworben hatten. Es liegt in der Nähe von Passau, aber schon auf österreichischer Seite. Dort wohne ich noch heute und von da aus mache ich Reisen durch Deutschland, die Länder der untergegangenen österreichisch-ungarischen Monarchie, an den Balkan, nach Frankreich und Italien.

Mein im schaffenden Drang quellendes grüblerisches Wesen drängte es auch nach schriftstellerischer Aeußerung und ich verfaßte 1908 eine wunderliche Geschichte, den Roman „Die andere Seite“, den ich auch illustrierte. Viele Anerkennungen von ähnlich empfindenden Menschen erfreuten mich damals und bestärkten mich noch in meinem illustrativen Schaffen, so daß ich lange Jahre hindurch neben meinen Blätterfolgen die Werke mir geistig nahestehender Dichter verschiedener Zeiten und Zonen mit Bildern schmückte.

Ich fühlte aber sehr klar, daß ich wohl immer ein Außenseiter bleiben müsse und in keine künstlerische Richtung einzugliedern sei. Den Krieg erlebte ich, durch ein Nervenleiden geschwächt, schauend, nicht handelnd. Als Zeichner schaffte ich vorwiegend Werke kleinen Formats mit Feder und Pinsel. Sie fanden schließlich auch außerhalb Deutschlands ihren Weg und ihre Wirkung bis weithin in die entferntesten Länder.

Dies alles kam und ging wie in einem Traum, und wenn mich nicht im Spiegel unter einem kahlen Schädel ein vielfach zerknittertes Antlitz anstarrte, könnte .ich selbst manchmal an der Wirklichkeit dieser Vergangenheit zweifeln.

Das Merkwürdigste ist, daß wir Menschen im Zuge der Jahre verschiedene Lebensstufen durchmachen, deren deutlichen Geschmack die Seele nicht merkt, solange sie darin schon in die nächste eingetreten ist.

So blickt endlich der Alte auf die Kindheit und Jugend, auf die frühe und gereifte Männlichkeit, zieht die Ernte aller Erfahrungen ein und ergibt sich schließlich nicht ohne Spott und Ironie, aber doch leichter, als er einst auf der Höhe des Lebens selbst angenommen hatte, in sein Geschick, mag dieses auch noch so viele tragische Züge aufweisen.

Erschienen in Alfred Kubin: Abendrot, Verlag Piper & Co., München, 1952.

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