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Leben braucht Warme

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Ich schlage ein Schulheft mit schwarzem Wachstuchumschlag auf. „Arbeitsbuch. 3. Klasse. 1933134. Klaus.“ In diesem Heft steht kurz die Geschichte der Schule, die ja auch die Geschichte von Anna Elim, dieser einzigartigen, großen und tapferen Frau, ist.

„Unsere Schule war zuerst einige Jahre in einer Baracke. Diese Baracke ist vor 17 Jahren, zur Zeit des Weltkrieges, erbaut worden. Da gab es viele Tote und zahllose Verwundete; alle Spitäler wurden zu klein. Da sind am Rande der großen Städte Barackenspitäler gebaut worden. Das größte Barackenspital der Stadt Wien war in Grinzing. Das Lager hatte 77 Baracken; darinnen lagen 6000 verwundete Soldaten, nicht nur Österreicher, sondern auch viele Fremde. Nach dem Krieg kehrten die meisten Verwundeten wieder in ihre Heimat zurück. Die Baracken wurden leer. Der Krieg hatte viele Menschen sehr arm gemacht und vielen Kindern den Vater genommen. Die leeren Baracken wurden Kinderherbergen: in die anderen kamen Obdachlose. Im Jahre 1925 wurden die meisten Baracken verkauft und abgerissen. Die Neuländer kauften im Jahre 1926 die Baracke Nummer 4 und richteten darin einen Kindergarten ein und dann unsere Schule. Zuerst waren nur wenige Kinder, dann sind viele gekommen, so viele, daß die Baracke zu klein wurde. Da wurde unser großes neues Schulhaus gebaut. Am 27. Dezember 1931 wurde unser Haus feierlich eingeweiht. Im Frühjahr 1932 wurden die Baracken demoliert. In unserem Schulhaus sollen alle Kinder ein schönes Leben haben, damit sie gute und tüchtige Menschen werden.“

Unter den Aufsatz hatte Klaus ein Bild der großen Neulandschule gezeichnet, das der guten Marianne ganz und gar nicht gefallen mochte, weil es schlampig und ohne jede Ähnlichkeit war mit der großen, modernen, von Holzmeister erbauten Schule. Wo die Neuländer, die alle arm wie Kirchenmäuse waren, das Geld für diesen großen, lichten Bau herhatten, blieb ihr Geheimnis. Aber Anna Ehm wußte sich immer Geld zu verschaffen, wenn sie eine neue Schule bauen wollte.

Weder meine Frau noch ich waren als Kinder gerne in die Schule gegangen. Als nun unsere drei Kinder zu den Neuländern gingen, holten wir, die Eltern, nach, was wir in unserer Zeit in der Schule nicht gefunden hatten. Für mich war jeder Weg zur Schule so schwer gewesen, als schleppe ich Ketten an meinen Füßen. Und unsere Kinder rannten, hüpften, tänzelten, trödelten gerne in die Schule; sie logen nicht; sie schrieben nicht ab; sie dachten nie daran, die Schule zu schwänzen; sie liebten die Lehrerinnen, und sie vertrugen sich mit den Mitschülern; sie schrieben Aufsätze, die wir gerne lasen, und wir freuten uns über die klugen &#9632;und freundlichen Bemerkungen der Marianna und der, Josefa -r- ach, eigentlich müßte ieh alle Namen-Meser wm-, derbaren Lehrerinnen aufzählen die Anna Ehms Haupt,-f< gegenständ lehrten, der in keinem Zeugnis erwähnt wurde und den man doch auf allen Gesichtern ablesen konnte — nämlich die Liebe, jene, die mir in der Schule gefehlt hatte und die nun die Kinder täglich aus ihrer Schule mit heimbrachten. Unsere Kinder belehrten uns, aber sie taten es genauso unaufdringlich und liebevoll, wie man sie belehrt hatte. Welche Weihnachtsfeiern! Welch gute Schule! Unvergeßlich die Bilder mit bunter Kreide, die eine Klasse gemeinsam an die Tafel malte: Christi Geburt im Stall, die Heiligen Drei Könige — sie konnten nicht schöner geträumt werden. Und welcher Eifer, welch leuchtende Augen!

Auf einmal war alles aus. Im April 1938 warf ein dummer Rüppel das Altarbild der Schulkapelle aus dem Fenster. Die Schule wurde gesperrt; die Schüler mußten in andere Schulen gehen, in denen sie all das vermißten, was sie die Jahre hindurch mit Liebe und Behutsamkeit umgeben hatte.

Dann kam der Krieg. Die Kinder aus dieser Schule hatten es oft nicht leicht. „Eure Schule“, sagte ich einmal nach dem zweiten Krieg zu Anna Ehm, „ist zu gut gewesen; ihr habt die Kinder, die Kinder haben euch zu lieb gehabt. Die Schätze, wie ihr eure Kinder genannt habt, haben gestaunt, wie ganz und gar anders draußen das Leben dann war.“ Anna Ehm lächelte nur; sie wußte, daß es nie zuuiel an Güte und Liebe in einer Welt geben konnte, die daran so arm ist. Sie und ihre Mitarbeiter hielten nicht viel von diesen mechanischen Methoden, von dem Unterricht mit der Stoppuhr, von dem ganzen Testschwindel und dem Versuch, auf solchen Schleichwegen und durch solche Hintertüren in die Gedanken und das Fühlen der „Schätze“ einzudringen. Sie wußten den alten, den geraden Weg, und sie gingen ihn.

Als dann die „Schätze“ nach dem Krieg halb verhungert aus der Gefangenschaft zurückkamen, öffneten die Neuländer wieder ihre Schule und speisten die Hungrigen aus. Viele, viele von den „Schätzen“ waren nicht wiedergekommen. Die Neuländerinnen wunderten'sich ein wenig über die rauhe Sprache der wilden Männer, die allmählich wieder zu Kräften kamen.

Anna Ehm errichtete andere Anstalten, und wenn sie mich besuchte und ich sie fragte: „Mit welchem Geld?“, sagte sie, das möchte sie auch wissen.

Noch einmal schlage ich das schwarze Heft auf, in dem mit ungefüger Blockschrift geschrieben steht: Alle Leben braucht Wärme. Das war, in der Sprache unserer Tage ausgedrückt, das Geheimnis der Anna Ehm, die ja statt Wärme auch Liebe hätte sagen können; aber sie schonte die großen Worte und sprach durch ihre Taten.

Anna Ehm hat sich — hier setzen auch wir das andere Wort — in ihrer Arbeit verzehrt. Aber von solch großer Tätigkeit bleibt etwas zurück, das mehr ist als alle Schulen, Heime und Kindergärten — etwas, das nicht vergehen kann, weil es unvergänglich ist, und das in allen ihren Schülern weiterlebt und weiterwirkt. Mag es oft auch von den anderen Masken der Zeit überlagert sein, im entscheidenden Augenblick bricht es dann doch durch, und — nicht mit den Augen, aber mit dem inneren Gesicht ist dann diese große Frau wahrzunehmen, die sich freut und immer wieder freuen wird, wie das, was sie gesät hat, weiterwächst.

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