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Leid und Große der Einsamkeit

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Dies ist's, was keiner erlernt; was jeder flieht und zugleich ersehnt: die Einsamkeit. Fliehen wir, so bleibt doch die Sehnsucht; haben wir sie, so möchten wir fliehen mit Eile und Gewalt.

Schlimmes Schicksal, wenn wir verlassen sind: wenn alle von uns gehen, wenn alle Kräfte uns verlassen, wenn wir beraubt sind und zerschlagen, wie jener Mann zwischen Jerusalem und Jericho. Der Verlassene ist der Bleibende: alle und alles wendet sich von ihn! und er bleibt stehen, kann nicht mit und kann nicht nachfolgen, muß eine Aufgabe zu Ende führen, ohne daß einer noch dabei bliebe. Dem Verlassenen, der ein Bleibender ist, gab Christus einen Sinn: daß Er allein noch bleibe, wenn einer verlassen ist. Denn in Christus bleiben heißt: verlassen zu sein von allen außer von Ihm, innerlich zu sein, im Geiste zu sein mit dem Herrn allein. Ohne Gefühl und Gespür, nur im Vertrauen auf diese Verheißung bleibt der Bleibende im bleibenden Christus. So überwindet der Christ seine Verlassenheit, indem er ein Bleibender wird in Christus. — Aber die Verlassenheit ist noch nicht die Einsamkeit, und das Bleiben in Christus ist noch nicht die Einsamkeit in Gott.

Manch einer ist unter vielen Menschen und doch gänzlich allein. Die vielen, die zu ihm gehören oder ihn nichts angehen; die mit ihm befreundet sind oder ihm gleichgültig gegenüberstehen — sie lassen den Menschen allzuoft allein. Nicht daß sich der Mensch verlassen fühlte, mit einem wehen Herzen spürte, wie keiner da ist und keiner nah ist; aber dennoch allein unter den vielen, weil keiner im innerlichsten nahekommt, nahekommen will oder darf. Man geht unter der Menge einher, lebt mit den vielen, und doch ist keiner, den man in persönlicher Weise lieben könnte oder lieben dürfte. Aber auch dieses Leben ist nicht die Einsamkeit. Denn Christus hat für den, der allein ist, den Auftrag der Liebe gefügt: was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan.

Die Einsamkeit aber ist daran zu erkennen, daß wir persönlich lebend, persönlich liebend einen einzelnen persönlich meinend erfahren müssen, wie keiner zum andern gelangen kann; wir wir Inseln sind, die miteinander unter den Meeresspiegeln in den Tiefen verbunden sind und im bewußten Leben einander fern bleiben müssen. Die Einsamkeit verlangt von uns die persönliche Liebe und das unmögliche Streben nach der unmöglichen Nähe. Wenn die Freundschaft und Kameradschaft uns in einem gemeinsamen Nenner der Arbeit und des Interesses einigt, so entfernt die Liebe uns voneinander. Denn die Liebe weiß doch nicht, warum sie ist und warum der Liebende den Geliebten liebt. Wer dies noch angeben kann, liebt nicht und wird auch nie einsam sein. Wer aber liebt und brennend liebt, persönlich liebt und nicht weiß warum und wozu, der muß früher oder später die Einsamkeit spüren: wie wenig wir einander mitteilen können von dem, was wir sind und haben, wollen und wünschen. Denn die Liebe kann nichts mitteilen, sie ist immer ganz dem Ganzen und anderem zugewandt. Aber das Ganze läßt sich nicht teilen, ohne daß es aufhört ein Ganzes zu sein; wollten wir weniger geben als das Ganze, wäre es ja nicht die Liebe, sondern eben jene Kameradschaft und Freundschaft. Wer aber könnte sich ganz verschenken? Wer könnte sich ganz und als Ganzer geben? Und doch: keine größere Sehnsucht, als dort zu sein, wo der Geliebte ist, und ganz dort zu sein, wo er ist, und sich aufzugeben und ohne Rest zu sein! So erfährt der Mensch die Einsamkeit — erfahrend, daß die ganze Liebe unmöglich ist Aber die Liebe ist und ist gerade deshalb möglich, weil sie uns in die Einsamkeit einhüllt, in die starre, starke, unbarmherzige Einsamkeit. „Si j'etais vous“, wenn ich du wäre — das ist die Sehnsucht, die sich nicht verwirklichen läßt. Und ließe sie sich verwirklichen, so wäre sie nicht mehr die Liebe, die uns dazu trieb, uns aufzugeben und du zu sein. Wie seltsam ist dieses Wesen, der Mensch: sein höchstes Können ist die Liebe; und liebend will er sich loswerden und ein anderer sein und dem Geliebten vereint sein, so daß er nicht mehr er selbst ist; wäre er aber sich selbst enthoben der andere geworden — wäre nicht die Liebe zu Ende, die doch zwei braucht: den Liebenden und den Geliebten, um aus jedem Liebenden einen Geliebten und einen Liebenden zu machen?

Mißverstehen wir vielleicht die Einsamkeit? Stammt die erfahrene Einsamkeit aus der Liebe, so muß sie mit der Liebe etwas zu tun haben, mit dem Gott, der die Liebe ist. Vielleicht ist die Liebe auf Erden in allen ihren Gestalten nur die Schule der Liebe Gottes: daß wir immer und überall als Liebende nur lernen sollen, dem großen Liebenden würdig zu begegnen, der die Liebe ist. Und dann wäre die Einsamkeit behoben: sobald Er kommt und uns durchweht mit seiner Liebensgewalt aus Ewigkeit und Sein.

Für den Sehenden zeigt sich hier die vollzogene Ungläubigkeit und Säkularisation der Gegenwart: aus betrügerischem, mordendem Mitleid mit dem Menschen hat man ihm die Einsamkeit abgenommen. Die Sozialisierung und Nationalisierung der heutigen Menschheit nimmt dem Menschen die Fähigkeit und die Aufgabe der Einsamkeit. Wir sind höchstens allein — aber nicht einsam.

Man versucht allenthalben, uns die Einsamkeit zu rauben, indem man uns deren Last wegzunehmen verspricht. Gewiß, wird sie uns weggenommen. Aber um welchen Preis! Um den Preis des Geistes und der Persönlichkeit! Wer aber einsam ist, der glaubt an den Heiligen Geist, an den Con-solator, an den, der die Einsamkeit mit uns zu teilen allein imstande ist, ohne uns die Persönlichkeit zu nehmen. Ja, der uns die personale Würde allererst verleiht und läßt: der Heilige Geist, das Klima, die Luft, der Sturm, die Gabe der Gottheit, die die Liebe ist. Wir glauben alle nicht mehr oder nicht genügend an den Heiligen Geist, den Beistand und Mit-Ein-samen. Wer aber an Ihn glaubt, der hat das ewige Leben, der hat die ewige Liebe, der hat das, was er kann und doch unendlich nie kann: die Einsamkeit. Widersteht nicht dem Geiste, sagt Sankt Paulus. Und wir übersetzen dies: widersteht nicht der Einsamkeit, sondern überlasset euch dem Heiligen Geiste und dem Leid, dem Kreuze, der Tragik, einsam sein zu müssen und es nie zu lernen. Nie? Doch, im Tode werden wir es wissen, warum wir einsam waren und es nicht lernten und doch so heiß liebten.

Aus: „Wie Gott sagt, was Gott will“, Verlag Alsatia, Colmar.

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