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Lyrisches Tagebuch 1933 bis 1945

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Vergessenes Vaterland — Vaterland der Vergessenen, Ehrfürchtig-liebliches Land, dem einst die himmlische Stimme

Hölderlins Lorbeern gestreut: „O heilig Herz der Völker —“ Des hoh’n Gesanges und der göttlichen Ahnung Ernste und holde Heimat, „du Land der Liebe“: O laß mich knien an deinem erschütternden Grabe!

Versunken liegt es — kaum, daß der nackte Hügel Demütig noch sich hebt aus den starrenden Schollen Eisenbesäter Flur — und verwahrlost liegt es:

Der schweifenden Winde Atem nur flüstert darüber hin Wie in verwelkten Gesängen,

Oder wie in den Wäldern verschollener Landschaft.

Denn blicklos hastet an ihm vorbei

Der neue, der irdische Mensch, der selbstgewisse, gewaltige,

Selten nur bleibt er steh’n, von heimlichen Schauern Widerwillig geschüttelt und ohne Rührung Wendet er sich zurück in den Lärm seiner Tage.

Nur der Verstorbenen treue Schatten neigen sich über den Hügel,

Mit stillen Gesichtern, voller Hoheit und Liebe Flehen sie sprachlos mich an

Gleich den Gestalten eines anderen Volkes ...

Vergessenes Vaterland — Vaterland der Vergess’nen, Unvergeßliches Land,

O hauche noch einmal deine geliebte Seele Auf einen lebendigen Mund,

Daß ich der Stimme deiner Unsterblichkeit lausche, Bevor ich sterbe —

Aber du schweigst der Verklärten unsägliches Schweigen.

Ich weiß noch, wie es begann: mir träumte nächtlich, Auch Lieder könnten sterben: ich sah meine eig’nen Gleich kleinen, toten Kindern im Sarge liegen Und weinte empor: die Nacht war gewittersüchtig, Düster und schwül. Im Hof verstzimmte der Brunnen. Ein rotes, fremdes Gestirn erschreckte den Himmel, Da hört ich's flügeln:

Wie reisende Vogelgeschwader rauschten sie her, die großen Gesänge der Vorzeit,

Langsam und feierlich, Jahrhundert um Jahrhundert Zogen sie über mich hin, fort in die Ewigkeit — Und vom Gebirge her hört ich noch einmal Die schwanenen Stimmen der letzten:

„O Land der Liebe, leb wohl!“ —

Seither hör ich keinen Gesang — tief in der Seele Fiel eine Türe zu: es ist vorüber.

Doch selig isťs heut zu verstummen,

Süß ist es abseits zu steh’n vom schändlichen Ruhm des Tages,

Licht isťs im Schatten zu wohnen,

Vergessen werden ist Huld, und vereinsamt werden ist Gnade,

Getröstet wird nur noch, wer weint —

Denn Weinen heißt Lieben, Und Lieben heißt Untergeh’n, heißt lebendiges Sterben! So schlafe denn, schlafe mein Mund —

Schlaf ist dem Tode verschwistert.

O liebt das Erliegende, Schwestern, liebt das Verfemte, Liebt nicht nach der Weise der Welt,

Liebt nach dem Himmelsgesetz des heiligen Gesanges!

Unedel gilt der Muse das Antlitz des prangenden Siegers, Auch noch dem reinsten drückt sie das Mal auf die Stirne, Denn in ihm siegt nur der Mensch und seine sterbliche

Stunde,

Doch im Besiegten siegen die ewigen Götter!

Der Untergehende nur ist der Entsühnte,

Nur der Geopferte trägt den Kranz des Geweihten, Und nur den Sterbenden umschimmert Verklärung.

Aus in der Insel-Büclierei erschienenen Gedichten Alle übrigen Werke Dichterin sind Ehreitwirth-Verlag. München. erschienen. Drei Bände

„Erzählenae Schriften“ wurden soeben ausgelicfert.

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