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Mann im Mond

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„Der kosmische Flug der sowjetischen Rakete und die Reise Chruschtschows erinnern hinsichtlich ihrer Tragweite eines ans andere!" So, in schöner Offenheit, die „Prawda“ am Sonntag, dem 13. September 1959.

Kein Zweifel: die Visitenkarte Chruschtschows hat auf dem schnellsten Wege Washington und Amerika erreicht, eben über den Mond ...

Was will der Herr von Lunik II, „Seine Exzellenz Nikita S. Chruschtschow", wie er im offiziellen Empfangsprotokoll und Besuchsprogramm der USA heißt, in Amerika? Die Landung auf dem Mond erleichtert ohne Zweifel seine Landung in Amerika. Ob es allerdings ausreichen wird, das zu erzielen, was Chruschtschow und seine Moskauer Freunde in Amerika anstreben: eine große Wende, vielleicht bereits, verklausuliert, eine große Partnerschaft, ist zu bezweifeln. So schnell geht es eben nicht. Die große Begleitung, die Chruschtschow mitbringt, nicht zuletzt seine ganze Familie, weist jedoch auf etwas hin, was Angehörige des Westens und der weißen Rasse leider oft übersehen: es geht „diesen Russen" um nicht mehr und nicht weniger als um das Konnubium. So wie einst jahrhundertelang die Plebejer im alten Rom um die volle Rechts- und Tischgemeinschaft mit den Patriziern rangen, so ringen heute die roten Russen um die volle gesellschaftliche Gleichberechtigung und Anerkennung in Amerika. Und wissen sich dabei als Vorhut der „Farbigen" und aller „Aussätzigen“, aller Unterklassigen und nicht ganz Anerkannten auf dieser Erde.

Hier, in dieser oft verhehlten Tatsache, stecken heikle Probleme. Wie viele puritanische und andere Amerikaner sind sich in ihrem Oberbewußtsein nicht im klaren, daß ihre Animosität gegen den „Mörder“ und „Verbrecher", wie sie Chruschtschow nennen, intim zusammenhängt mit dem uralten Hochmut, ja mit der Angst der Herren und Damen der „wirklich guten Gesellschaft", die sich eben mit „solchen Menschen“ nicht an einen Tisch setzen. Der Kampf um den runden Tisch seinerzeit in Genf — sein Urbild ist der runde Tisch der puritanischen Demokratie der „Kinder des Lichts“ — hatte bereits gezeigt, wie tief instinktgebunden diese Kontaktschwierigkeiten sind.

Wichiger als vieles Gerede (Chruschtschows und seiner Gesprächspartner in den USA) wird es in die Waagschale fallen, ob es dem sowjetischen Regierungschef gelingt, diese tief eingewurzelten Gefühle des Abscheus, der Abwehr und der Angst — die übrigens .auch den „dreckigen Chinesen“ gegenüber in Amerika Mauern der Abwehr bilden — zu überwinden.

Ob der stämmige Mann so tief ins Unterbewußtsein der Amerikaner einzudringen vermag, wer mag das zu sagen? Daß Moskau weiß, worum es hier geht, zeigt gerade Lunik II. Der Umweg über den Mond erscheint so als direkte Sonde in jenes „Herz aller Dinge“, das die Russen heute treffen wollen. Chruschtschow und die Seinen sind nicht ausgezogen, um in Amerika das Fürchten zu lernen oder das Fürchten zu lehren, ihnen geht es um anderes und um mehr: um eine Durchbrechung einer Schallmauer, einer Instinktmauer, die älter ist als das neurussische Reich und als die Ideologie des Marxismus und seiner Gegner.

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