6666115-1960_35_01.jpg
Digital In Arbeit

Powers und die Folgen

Werbung
Werbung
Werbung

Der Moskauer Prozeß ist vorüber. Die in eine dreijährige Gefängnishaft und darauffolgende Einweisung in ein mehr oder minder kaserniertes Zwangsarbeitsverhältnis gestaffelten zehn Jahre Freiheitsentzug für Francis Gary Powers überschreiten das Strafausmaß, mit dem ein in welchem Lande immer gefaßter Spion billigerweise zu rechnen hat, keineswegs, eher das Gegenteil ist der Fall. So senationeli diese absolut ungewohnte sowjetische Milde von der Öffentlichkeit diesseits (und wahrscheinlich auch jenseits) des Eisernen Vorhangs empfunden worden sein mag, so naiv und töricht wäre es, daran zu zweifeln, daß das Urteil bereits vor Prozeßbeginn beschlossen worden war und daß sich die im Verhandlungssaal zu treffenden Entscheidungen darauf beschränkten, das Strafausmaß allenfalls im gesteckten Rahmen zu dosieren: je nach der Bereitwilligkeit des U-2-Piloten, sich gefügig zu betragen und nebst dem traditionellen Schuldbekenntnis das erwünschte Quantum an Reue an den Tag zu legen.

Sicherlich wurde jedes Wort mit Powers abgesprochen, auch jene seiner Antworten, die, gemessen an der Widerspruchsfeindlichkeit sowjetischer Gerichte, unkonventionell erscheinen mußten — wodurch die freie, ungehemmte Reaktion eines Angeklagten demonstriert werden sollte, an dem offensichtlich keinerlei „Gehirnwäsche“ praktiziert worden war. Wenn man nun noch die äußerst naheliegende Vermutung berücksichtigt, daß alle dem Angeklagten in Aussicht und der Welt zur Schau gestellte Milde an die Bedingung geknüpft gewesen sein mag, daß er Chruschtschows Version über den in 20.000 Meter Höhe geglückten Abschuß der U 2 deckte, dann ersteht das Bild eines klassischen Schauprozesses in aller Deutlichkeit vor uns.

Die Methoden der Täuschung und des im vorhinein beschlossenen Ausganges blieben unverändert, nur das Verfahren unterschied sich von der überlieferten Sowjetpraxis und die Absicht war neu gegenüber den althergebrachten Dogmen der Stalinistischen Liquidationsmaschinerie: Chruschtschows Kurs ist an Leichen wenig interessiert — dem Westen sollte vielmehr ein makelloses Gerichtsverfahren als Wahrzeichen einer humanen Gesellschaft vorgespielt werden, die es sich im Vollbewußtsein ihres Rechts und ihrer Stärke leisten kann, an den Mitläufern der „kapitalistischen Aggression“ Großzügigkeit zu üben. Gerade das nun hat die westliche Öffentlichkeit (einschließlich der Regierung der USA) nicht, oder wenn, dann reichlich spät begriffen.

Auf die zu erwartende propagandistische Offensive, die darauf abzielte, den nordamerikanischen Präsidenten zu demütigen, dessen Außenpolitik verbrecherischer Anschläge gegen den Frieden und die Souveränität der Völker anzuklagen und in Abwesenheit als Hauptschuldigen in dem Prozeß abzuurteilen, war man durchaus gefaßt (und die Folge war, daß alle von Rudenko zahlreich und lautstark in diese Richtung unternommenen Lamenti zumindest im Westen wenig Eindruck hinterließen). Das Urteil indes löste da und dort unverhohlenes Erstaunen und Verblüffung aus. Mit dem von Moskau ferngezielten Erfolg, daß nahezu die gesamte westliche Presse, der jede Sensationsnachricht recht und, je unerwarteter sie kommt, um so lieber ist, und dazu so manche, wenn auch nicht weitblickende, so doch führende Persönlichkeit des Westens, ja sogar Eisenhower selbst, halb widerwillig, halb respektvoll, „zur geben mußten“, daß Francis Powers von den Sowjets, denen man bestenfalls ein Lebenslänglich zutraute, gut und fair und durchaus untadelig behandelt worden war.

So mußte sich der Westen, nur weil er stets hinter Moskaus Taktik hinterdreinhinkt, wieder einmal belehren lassen, daß das Sowjetregime offensichtlich doch menschlicher sei, als es die „Aggressoren“ gerne hinstellen. Und so trat zum zweitenmal seit der unleidigen U-2-Affäre der paradoxe Fall ein, daß dieses Regime, das millionenfaches Unrecht und Unterdrückung übt, vor aller Welt als rechtsliebende Macht dasteht, die man gekränkt und provoziert hat und die maßvolle Vergeltung übt. Noch ein Dutzend solcher Exempel und der vielzitierte kleine Mann auf der Straße glaubt es wirklich.

Doch nicht allein die legendäre Leichtgläubigkeit und die zum wiederholten Male bewiesene Reaktionsunfähigkeit, vielmehr die Sensationslust, Sentimentalität und Ängstlichkeit des Westens haben diesem neuartigen Moskauer Schauspiel zu einem nahezu absoluten Propagandaerfolg verholfen: Alles, was der Westen an Repräsentation und Publizistik aufzubieten hatte, vom diplomatischen Korps über die großen Presseagenturen bis zu den Angehörigen des Angeklagten in ihrem menschlichen Elend, hat sich willfährig seine Rollen zuweisen lassen. Was im umgekehrten Fall, etwa wenn sich Washington entschlösse, dem nächstbesten prominenten Sowjetspion, derer es genüg zur Auswahl gibt, einen Monsterprozeß zu machen, in dem der wahre Angeklagte niemand anderer al Chruschtschow ist, nicht möglich wäre, denn kaum ein TASS-Vertreter würde am Schauplatz erscheinen und kein Ostdiplomat wäre zur Stelle und kein Korrespondent der „Prawda“ würde dem Sowjetvolk die Fairneß amerikanischer Gerichte schildern, und die Eltern des Spions würden keine Möglichkeit haben, vor amerikanischen Ämtern ihren Kummer bloßzustellen — indes, wenn der Osten Regie führt und der Westen blindlings mitspielt, dann läuft der Ausverkauf auf Stachanowschen Touren.

Drei Tage lang blickte die freie Welt neugierig nach Moskau, an allen Straßenecken, in allen Kaffeehäusern besprach man eifrig, was irgendein Generalleutnant Borisoglebski dem Abendland zu sagen geruhte und wie elegant ein gewisser General Sacharow in seinem Luftwaffenblau aussah. Powers' Gattin Barbara gab der „Iswestija“ Exklusivinterviews, der amerikani-, sehe Anwalt der Familie Powers fand, daß sich Generalstaatsanwalt Rudenko eines milderen Tones befleißige als dessen amerikanische Kollegen, und eine führende deutsche Zeitung wußte zu vermelden, daß Powers gut genährt und gepflegt, und eine britische, daß er gesund aussah, eine amerikanische, daß er Kaviar und Mokka in den Gerichtspausen serviert bekam, und eine österreichische Zeitung berichtete nahezu fassungslos über einen „erstaunlich nüchternen, erstaunlich sachlichen, erstaunlich korrekten Prozeß“ — mehr konnten sich die Regisseure an der Moskwa wahrlich nicht wünschen. Was die Konzeptlosigkeit der westlichen v Staatslenker eingeleitet hat, just jene, in ihren eigenen Dogmen befangenen, überlauten Gralshüter des Abendlandes, die nicht zu differenzieren, bloß in Bausch und Bogen zu denunzieren vermögen, haben ihr Plansoll an Naivität erfüllt.

Powers flog einen gefahrvollen Auftrag und er wurde dafür entsprechend hoch entlohnt. Seine militärischen Auftraggeber haben ihn benutzt, und nunmehr bediente sich der Kreml seiner. Sein Schicksal ist zweifellos bedauerlich und wenig beneidenswert, doch im Vergleich zu dem, was ieder auf fremdem Territorium aufgegriffene Spion zu erwarten hat, ist er immerhin mit einem blauen Auge davongekommen. Die Beule indes hat sich der Westen selbst geschlagen. Wenn sich die kontinentale Indolenz, die amerikanische Publicity und die sowjetische Proüagandataktik ergänzen, dann Gnade uns allen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung