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MEDITATION ÜBER EINEN HEILIGEN

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Fassen wir einmal das Leben und den Tod als je ein Gebäude auf! Das Leben, das der Tod noch nicht beendete, wäre das eine, das uns völlig unkenntliche „Nach dem Tod“ wäre das andere Haus. Wir stünden mit solcher Symbolik nicht isoliert da: unzählige Male schon wurde der Geburtsmoment als „Eingangstor“, als „Pforte“ oder als „Schwelle“ symbolisiert Man tritt in das Lebenshaus ein. Als Jugendlicher ersteigt man die vielen Treppenstufen in seinem Inneren. Als Alternder befindet man sich nicht mehr weit unterhalb des Dachfirstes. Mit dem Todesaugenblick wird das Haus abgebrochen. Natürlicher Tod gleicht dann dem registrierten, rationalen Herbeikommen der zu Abbrucharbeiten befohlenen Spezialarbeiter; während, in welcher Gestalt immer er auftritt, gewaltsamer Tod der Bombe vergleichbar ist, die das Gebäude, in einem Nu, blitzartig spaltet. Die Periode, da dann noch die Trümmer des Gebäudes umherliegen, die Ruinenzeit, gleicht der Auflösung der Lebenssubstanz, hinein in Humus und Erde.

Was wären demnach die Lebenshäuser? „Gebilde auf Abbruch?“

Man ahnt es, wer sie erbaute. Selten kennt man den, der sie niederreißen wird. Sie stehen schon lang, bevor ihre jeweiligen Bewohner sie zum erstenmal betreten. Das Baumaterial ist von all den Ahnenreihen, Ahnenvergangenheiten vorausgeliefert. Die menschliche Gattung, die sich bis zum Jetzt-Augenblick entwickelte, war die Bauherrin. Jedes Geborenwerden, das unsere Gattung betrifft, findet schon eine Tür in einer Wohnstätte vor, die fertig bereit steht.

Mit dem Sterbensaugenblick tut sich die Tür in das Todeshaus auf. Niemand kennt dessen Inneres, noch seine Ausmaße, seine Gestalt. Trotzdem werden noch ununterbrochen von den Bewohnern der Lebenshäuser die Todeshäuser gebaut:

Wer immer die Zerstörung irgendeines seiner Brüder, seiner Mitmenschen will — ob er diese Zerstörung physisch oder psychisch plant —, baut mit am Todeshaus dessen, der ihm als Lebender mißfällt. Viele Bewohner von Lebenshäusern wirken am Entstehen ihrer eigenen Todeshäuser mit.

Und doch kam noch kein einziger Todeshauserbauer hinaus über die Errichtung — der Eingangstüre! Und deshalb ist es immer so tragisch, wenn die Zerstörung des Mitmenschen gewollt wird. Du befeindest deinen Mitmenschen; wie wird dessen Todeshaus aussehen, wenn du davon nichts anderes entwerfen kannst, als die erste Eingangstür? Was dann, wenn ein Todeshaus ein riesenhafter Palast wird, und die Eingangstüre paßt — von der Stümperin „Feindschaft“ entwor- fen — schlechter auf ihn, als eine Faust auf ein Auge? Sinnvoll werden unsere Lebenshäuser errichtet: nachweislich ererbte Erfahrungen gestalteten deren Inneres, deren Äußeres. Hingegen kann jede Tür, die einer für irgendeines Nächsten Tödeshaus anfertigt, eine radikale „Niete“ sein! Wer da tötet, verfertigt die Tür zum Todeshaus — und auch sie nur auf gut Glück! Dies ist schlimmer, als wenn man sich beim Lebenshaus irrt. Da jedes niedergerissen wird (mit seines Bewohners Tod), bedeutet es gar nicht viel, daß es vielleicht zuvor eine Fehlkonstruktion war.

Hingegen — wann wird ein Todeshaus niedergerissen?

Bei den im Neuen Testament berichteten Totenerweckungen.

Da weiß man sich nicht zu fassen vor Staunen bei Sankt Lazarus; er, der Heilige (der neben St. Jakobus in der altspanischen Nationalmythe vom „Cid“, eine Hauptfigur bildet!) — er ist’s, bei dem die Meditation verweilen sollte.

Sein Lebenshaus wurde ihm abgebrochen von einem Wesen, das man „eine böse Krankheit“ genannt hatte. Sie verfertigte für ihn die Tür seines Todeshauses. Durch diese Tür geht er, wie jeder Erdenbewohner, in sein Todeshaus.

Doch dann geschieht es, daß ihn der Heiland erweckt. Und auf springt die Pforte, durch die er gegangen war, und ist nun plötzlich die Tür seines Lebenshauses, durch die er, Sankt Lazarus, aufs neue in dieses eintritt.

Durchschritt Sankt Laziarus so den Kreis, der das uns gänzlich Unbekannte schneidet oder berührt? Als er zurücktrat, auf die schon vormals bei seiner Geburt betretene Türschwelle, möchte er annehmen, er habe einen Kreis durchschritten, in dem beides war, das Erkannte und das sonst Unerkennbare, das ganze andere. Doch niemals geht sonst ein Kreis durch beide Welten hindurch, von denen die eine nichts von der anderen weiß.

Man darf die Behauptung wagen: jene, die irgendein Leben ausmerzen wollen, seien ‘ Pfuscher. Das Resultat ihrer Pfuscherarbeit sind die schlechten Türen zu fremden Todeshäusern. Niemals wissen sie es ja, ob diese Häuser nicht mehr kümmerlichen Türen spotten. Besser, die unbekannten Erbauer aller Todeshäuser machen sich ihre Türen selbst!

Vielleicht wissen sie es, die unbekannten Erbauer, welche Türen für ihre Häuser geeignet sind. Aber — weiß dies etwa ein Richter, der irgendwo Todesurteile ausspricht? Was ist er, was ist ein Scharfrichter anderes, als ein gänzlich unwissender Hersteller einer Todeshaustür? Was weiß die Armseligkeit dieses so schrecklich geglaubten vom Haus hinter jener Tür, die seine Pfuscherarbeit geschaffen hat?

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