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Menschsein im grauen Alltag

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Wenn das Wort der alten Römer, nach dem auch Bücher ihre Schicksale haben, zutrifft, dann gilt es für dieses Buch. „Dieses Buch“, schreibt die Autorin in der Widmung, „ist meinem Manne gewidmet, meiner, Sonne', in tiefer Dankbarkeit für die vierzig Jahre unserer glücklichen Ehe.“ Eine ungewöhnliche Hochzeitstagsgabe. Ungewöhnlich wie das Schicksal dieses Buches, seiner Dichterin und ihres geliebten Mannes, Mitarbeiters und Übersetzers. „Salzburger Trilogie“ könnte man es nennen, denn es ist die Frucht jener ersten, in allem und jedem überaus glücklichen Zeit, die dem Ehepaar Dr. Arnulf und Alja v. Hoyer zwischen zwei tiefen Erschütterungen der Welt und ihres persönlichen Lebens in Salzburg geschenkt wurde.

Es faßt die (seit dem 6. Lebensjahr gefühlten) Tagebücher Alja Rachmanowas, und zwar die von 1916 bis 1930, zusammen: quasi das Buch der Liebe, das Buch der Ehe und das Buch der Familie mit der Wiener ersten Kindheit des Söhnchens Jurka, dessen süßem, schmerzlichem Leben und Tod auch noch drei andere Bücher der Dichterin gewidmet sind. Ein Wort aus dem 17. Jahrhundert des unerschrockenen russischen Erzpriesters Awwakum (Habakuk) steht als Motto an der Spitze des ersten Bandes: „Du magst ohne Furcht sprechen, wenn du dich nur durch dein Gewissen leiten läßt.“ Er durfte es sagen, denn er büßte seine unbestechliche Kritik an den Sünden des Herrscherhauses mit dem Tod in den Flammen. Und sie durfte es ihm nachsprechen, die Dichterin, die Vertriebene, die Gejagte, die an Leib und Seele die Unbill der Revolution erlebte und bei aller unausrottbaren Liebe zur Heimat auch mit unerbittlicher Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit das Unrecht hinausschrie und anklagte, das die neuen Machthaber Millionen Menschen ihrer Heimat zufügten. Sie durfte (Motto des zweiten Bandes) auch mit dem russischen Aufklärungsphilosophen des folgenden Jahrhunderts, Alexander Nikolajewitsch Radi-schtschew, sagen: „Rund um mich her richtete ich meinen Blick, und meine Seele ward angefüllt vom Leid der Menschen“; denn in diesem zweiten Band — das Tagebuch schreibt die Jahre 1920 bis 1925 — wütet der russische Mensch gegen sich selbst, maßlos, hemmungslos, herzlos, und ringsum sind die Kerker angefüllt vom Leid der Menschen. Und sie durfte' schließlich autffWDösÄjewskij (Matte.'Hier dritten Bandes) das berühmte Wort vom „wirklichen

Helden“ sagen, „der diesen grauen Alltag erträgt und dennoch dabei Mensch bleibt“. Denn in den dort geschilderten Wiener Jahren des dritten Bandes haben sowohl die junge Mutter, Gattin, Dichterin und „Milchfrau“ (in Wirklichkeit nicht in Ottakring, sondern in Währing) als auch ihr neben seinen Studien unentwegt nach Brotverdienst und Geld Ausschau haltender Gatte allen Jammer der Nachkriegszeit, Hunger, Kälte, Wohnungselend und Lieblosigkeit (das goldene Wiener Herz kann in Glück und Not auch sehr, sehr hart zum Nächsten sein), also das zermürbendste Grau des Alltags, erlebt und sich doch im Dostojewskijschen Sinne als unbemerkte, uninteressante, stille Helden des Alltags bewährt — eine Bewährung, die noch viele Jahre lang den (drei, seit 1945 nur noch zwei) Menschen Hoyer immer wieder das Letzte abverlangen sollte, bis es endlich im Frieden eines Schweizer Dorflebens zur Ruhe kam.

Die Auflagezahlen dieser Trilogie, die bisher immer getrennt veröffentlicht wurde, künden, so wie die Steine das Lob Gottes, die Sehnsucht und den unstillbaren Hunger der Menschen nach Liebe auch in dieser harten Zeit der Prüfungen. Sie sind ein Sonderfall selbst im riesenhaften Erfolgswerk der Dichterin, der sich in bisher 15, in 21 Sprachen übersetzten und in l1/* Millionen Exemplaren verbreiteten Büchern ausdrückt.

Der erste Band, „Studenten, Liebe, Tscheka und Tod“, erschien in 1. Auflage 1931, in 37. Auflage 1952 mit dem 129. bis 131. Tausend; der zweite Band folgte 1932, in 33. Auflage 1951 mit dem 98. bis 103. Tausend, und der dritte Band kam in erster Auflage 1933, in 27. bis 28. Auflage 1952 mit dem 79. bis 82. Tausend heraus: zusammen also sind von den drei „Tagebüchern“ 98 Auflagen mit 316.000 Exemplaren verbreitet, zu denen nunmehr die neue, schön ausgestattete und erstaunlich billige Styria-Gesamtausgabe der Trilogie tritt.

' Sie wird weiter reden, klagen und anklagen, aber auch lieben, verzeihen und beten und von Haß und Verfolgung erzählen, von Irren und Wirren einer aus den Fugen geratenen Zeit, durch deren Finsternis wie eh und je im russischen Wehen und Geschehen das Licht leuchtet — hier: zweier frommer Menschen, zweier liebender Menschen, zweier Helden im grauen

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