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Österreichische Dichter in russischem Gewände

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Nicht nur der Konsum lebenswichtiger Güter, sondern auch der geistige Konsum werden in einer Diktatur genau geregelt. Kann man im ersten Fall von einer Regelung unvernünftig üppigen und daher schädlichen Verbrauchs reden, so liegt im zweiten Falle eine bedauernswerte Beschneidung vor, die bei uns eine Generation ohne Heine, Offenbach oder Feuchtwanger zum Beispiel aufwachsen ließ. Von einer objektiven Orientierung über ausländische Literatur kann erst gar nicht die Rede sein. Um so erfreulicher ist es, daß der „Staatsverlag schöner Literatur“ in Moskau eine äußerst rege Tätigkeit in Herausgabe ausländischer Literatur entwickelt hat, der — wenn auch ausgewählt — immerhin einen beachtlichen Rundblick in das literarische Schaffen des Auslandes gewährt.

Seit Einsetzen der „Tauwetterperiode“ in der Sowjetpolitik hat sich die Haltung Österreich gegenüber merklich gebessert und ist bis heute beinahe ungetrübt erhalten geblieben. Diese Entwicklung hat auch ihren Niederschlag in der Literatur gefunden, ist doch erst kürzlich (am 24. Juni 1959 wurde mit dem Drück begonnen) eine beachtliche Sammlung österreichischer Novellen des 19. Jahrhunderts erschienen, deren Wert noch mehr steigt, wenn man bedenkt, daß von 41 Novellen auf einem Raum von 703 Seiten, 23 Erstübersetzungen zu nennen sind, darunter — man höre und staune! — auch zwei Novellen von Adalbert Stifter („Das alte Siegel“ und „Granit“).

Ein oberflächlicher Blick auf die Übcrsetzertätig-keit, die Dichtern deutscher Zunge gewidmet wird, beziehungsweise gewidmet werden darf, läßt erkennen, daß die österreichische Literatur ganz jämmerlich gegenüber der deutschen abschneidet. So hat es Heine — ein Lieblingsdichter der Slawen — auf 135 Ausgaben mit 2,809.000 Exemplaren gebracht, Goethe auf 105 Ausgaben mit 2,025.000 Exemplaren, die Brüder Grimm auf ganze 206 Ausgaben mit 17,839.000 Exemplaren, Schiller auf 111 Ausgaben mit 1,829.000 Exemplaren. Von 1918. bis 1959 erschienen 310 Ausgaben mit 63 Millionen Exemplaren und in der kurzen Zeitspanne von 1950 bis 1959 551 Bücher in einer Auflagenzahl von 36,6 Millionen! (Mitteilungen der „kniznaja palata“, Novye Knigi, 40/59, p. 71). Demgegenüber kann — wie schon erwähnt — Österreich nichts Ähnliches aufweisen. Beliebt dürfte Rosegger sein, der es auf dreißig verschiedene Sammelbände seiner Novellen in russischer Übersetzung gebracht hat. Daneben rangiert Anzengruber. (Beide werden von Leo Tolstoi lobend erwähnt. D. P. Makovickij, „Jasnopoljanskie zapiski“, 1905). Weiter konnten sich Eschenbach,

Moritz Gottlieb Saphir und Grillparzer (Dramen, Moskau, Petrograd 1923) einiger Übersetzungen erfreuen. Adalbert Stifter aber ist in der immerhin recht umfangreichen 2. Ausgabe der „Großen Sowjetenzyklopädie“, 51 Bände) nicht einmal als Stichwort enthalten, während Ernst Fischer mehr als eine halbe Spalte im Band 45 gewidmet ist. Außerdem ist noch hinzuzufügen, daß die meisten Übersetzungen aus der Zeit der Oktoberrevolution stammen (so zum Beispiel Rosegger: Seine Werke erschienen Kiew-Petrograd-Charkow 1910; M. 1901; Petrograd 1915 und St. Petersburg 1903).

Eine Schwalbe bedeutet hoffentlich vorliegender Novellenband „Avstrijskaja Novella XIX. veka“, Goslitizdat, Moskau 1959, red. von T. Putinceva, 703 Seiten, Preis 12.20 Rubel (= 36.60 ö. S), Ganzleinen. Dieser Band enthält immerhin eine Auswahl von 9 österreichischen Dichtern und zwar: Grillparzer (2), Friedrich Halm (1), Moritz Gottlieb Saphir (7), Adalbert Stifter (2), Ferdinand von Saar (3), Ludwig Anzengruber (4). Peter Rosegger (10), Maria Ebner-Escheribach (9) und Jakob Julius David (3). Vielleicht wird auch einmal den österreichischen Dichtern die Ehre angetan, indem sich der Staatsverlag Grill-parzers, Stifters, Eschenbachs oder Saars annimmt und sie in seiner so lobenswert durchgeführten Reihe von gesammelten Werken herausbringt; mit Rilke allerdings wird es seine Schwierigkeiten haben, und Weinheber oder Hofmannsthal haben wenig Spuren in der Sowjetunion hinterlassen.

Berechtigung zu einer Besserung dieser Zustände geben einige Stellen in den Kommentaren und der Einleitung zu besagtem Novellenband, die dem Ohr des österreichischen Patrioten geradezu schmeicheln, heißt es doch gleich eingangs: „Groß und vielgestaltig ist die österreichische Nationalliteratur des 19. Jahrhunderts. Sie wird repräsentiert durch das Schaffen solch bedeutender Autoren wie Franz Grillparzer und Ludwig Anzengruber, Adalbert Stifter und Ferdinand von Saar, Peter Rosegger, Maria Ebner-Eschenbach und anderer. Ihre Werke zeichnen sich aus durch starkes nationales Eigengepräge, bedeutende künstlerische Würde, flammender humanistischer und gesellschaftlicher Zielbewußtheit. Leider ist durch lange Zeit hindurch die österreichische Literatur nicht genügend studiert und würdig genug eingeschätzt worden ...“

So wollen wir denn hoffen, daß sich den jetzt laufenden Ausgaben von Heine (in 10 Bänden) und Thomas Mann (ebenfalls 10 Bände) auch einmal ein Österreicher anschließen möge

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